Zeit nehmen will gelernt sein
Aus der Arbeit der Chemnitzer Notfallseelsorge / Trauernde nicht allein lassen
Chemnitz -"Wäre ich allein gewesen, wäre ich vom Balkon gesprungen!" So deutlich beschrieb eine Chemnitzerin, wie ihr unmittelbar nach dem Tod ihres Mannes zu Mute war. Sie war Schwester Bernadette Böhm sehr dankbar, dass sie in dem Moment nicht auf solche Ideen kam. Die Ordensschwester betreut zusammen mit neun Frauen und Männern in Chemnitz und im Landkreis Mittweida Menschen in extremen seelischen Notlagen. Auf ihrer Dienstjacke steht Notfallseelsorge.
Die Zahl der Einsätze hat in den vergangenen Monaten zugenommen. Bis Mitte des Jahres begleitete im Durchschnitt alle 14 Tage ein Notfallseelsorger die Polizei, wenn die Beamten eine Todesnachricht überbringen mussten. In diesem Jahr meldeten sich Rettungssanitäter der Feuerwehr und Notärzte beim Hospizdienst. Ihnen war es immer wieder passiert, dass sie nach einem Todesfall Trauernde allein lassen mussten, weil die Zentrale bereits den nächsten Einsatz durchgab. Schwester Bernadette und ihr Team übernahmen die Aufgabe. Jetzt kommt es vor, dass sie dreimal in einer Woche unterwegs sind -zu einem Unfall, einem Todesfall zu Hause, nicht selten zu einem einem Suizidfall. Tendenz steigend.
Die Nachfrage steigt im Moment zunächst einmal deshalb, weil sich das Angebot der Notfallseelsorge unter den Rettungsteams nach und nach herumspricht und damit häufiger in Anspruch genommen wird. Gleichzeitig werden es immer mehr Notfälle, in denen Menschen auf sich allein gestellt sind. "Bei einem alten Ehepaar, beide 87, starb der Mann. Der Notarzt musste weiter und die Kinder lebten in Radebeul. Die Stunden, bis die Kinder eintrafen, waren wir bei der Frau", schildert Schwester Bernadette einen Fall, wie er in dieser Zeit und dieser Region nicht selten vorkommt. Abwanderung, Arbeitsstellen und Aufträge in weiter Entfernung, oft im Westen, auch Cl../../inch in der Familie machen immer mehr Sachsen einsam und hilflos, wenn die Welt über ihnen scheinbar zusammenbricht.
"Ein Mensch ist in einer schweren Krise. Und keiner ist da, der sich kümmert. In dem Moment bieten wir an, uns Zeit für ihn zu nehmen", bringt Bernadette Böhm das Angebot der Notfallseelsorge auf den Punkt. "Zeit nehmen" klingt zwar ein- fach, will aber gelernt sein. Die Chemnitzer haben sich in Jena, beim Institut für Notfallseelsorge -Krisenintervention, auf die Einsätze vorbereitet. "Zu einem Trauernden zu sagen, es wird schon wieder, ist natürlich Quatsch. Es wird eben nicht schon wieder!" Schwester Bernadette geht nach der Formel: "Warmes Herz zeigen und kühlen Kopf bewahren". Die Angehörigen stehen oft unter Schock. Deshalb schaut sie sich in der Wohnung um, schaltet zum Beispiel Fernseher oder Herdplatten aus, übernimmt Telefonate. "Wir diktieren nicht, was gemacht wird, sondern unterstützen die Menschen", stellt sie klar.
Nach den Betroffenen richtet sich auch, wie das Leid im ersten Moment ertragen wird. "Wenn die Hinterbliebenen nicht reden können, sitzen wir neben ihnen und schweigen, halten die Hand und reichen manchmal kiloweise Taschentücher. Viele wollen aber auch reden, die Sätze sprudeln förmlich. Oft werden Fotoalben geholt", erzählt die Seelsorgerin. Sie hört zu, fragt nach. Mit tröstenden Worten ist sie sehr vorsichtig. "Wenn es ein schneller Tod war, kann ich sagen, dass der Tote nicht gelitten hat."
Missionieren ist für Schwester Bernadette in der Situation tabu. Allerdings weist sie auf Hilfsangebote der Caritas und des Bistums hin, auf die Ehe-, Familien- und Lebensberatung zum Beispiel. "Denn wir sind für den Crashfall da, die richtige Aufarbeitung kann erst später beginnen."
Für Schwester Bernadette ist Dienstschluss, wenn sie von Familienangehörigen oder guten Freunden abgelöst wird. Sie geht jedes Mal mit dem Gefühl, dass die Stunden und die Kilometer ihren Sinn hatten: "Jeder Fall bestätigt, dass Notfallseelsorge gebraucht wird -tausendprozentig!"
Gert Friedrich
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Freitag, 13.12.2002