Sehen
Gedanken zum Advent
Liebe Lesergemeinde! "Bald nun ist Weihnachtszeit", so tönt es über den Supermärkten. Als wenn wir nicht selbst wüssten, dass es nur noch wenige Wochen bis zum Christfest sind! Werden wir wieder abgespannt und innerlich leer vor den Festtagen stehen, an denen wir doch froh bekennen sollen: "Christ, der Retter ist da"?
Nein, es muss nicht jedes Jahr so sein! -Ich möchte Sie einladen, mit mir in den kommenden Wochen einen Weg durch den Advent zu gehen, der uns ein wenig auf das Geburtsfest des Herrn vorbereiten soll. Wir wollen auf diesem Weg besonders auf unsere ansonsten so strapazierten Sinne achten und uns heute fragen: Welche Bedeutung hat für uns im Advent das "Sehen"?
Kennen Sie die Gestalt des Sehers Bileam aus dem Alten Testament? Als Junge fand ich es absonderlich, dass er einen Esel ritt, der sprechen konnte. Uns soll es hier um Bileams geheimnisvolles Wort gehen, das er -zum Ärger des Königs von Moab -über das aus der Wüste heranrückende Volk Israel sprach: "Ich sehe ihn, aber nicht jetzt, ich erblicke ihn, aber nicht in der Nähe: Ein Stern geht über Jakob auf, ein Zepter erhebt sich in Israel" (Num 24,17). Der "Stern über Israel" -ein Symbol der Hoffnung auf den Messias, bei dessen Kommen es heißen wird: "Alle werden auf ihn schauen". Als die Zeit gekommen ist, geht dieses Symbol sogar über auf die Heidenwelt. Magier aus dem Osten entdecken den Stern und halten Ausschau nach ihm, um das Königskind zu finden.
Sehen kann also ein Ausschau halten sein, weil uns eine Sehnsucht erfüllt. Fragen wir uns: Wonach halte ich Ausschau im Advent, nach welchem "Stern" habe ich Sehnsucht, wenn ich an Weihnachten denke? Ein Lied, das wir im Advent gerne singen, gibt uns die Blickrichtung an: "O komm, o komm, Emanuel, nach dir sehnt sich dein Israel".
Und noch ein Gedanke über das Sehen: Gern beobachte ich, wie Kinder still und staunend vor der Krippe stehen, Kinder, die sich sonst stundenlang mit elektronischen Spielen beschäftigen. Sie haben sich Gott Lob noch etwas bewahrt, was uns Großen fast abhanden gekommen ist: das Schauen und Staunen.
Das konnten die Hirten von Bethlehem, die Weisen aus dem Morgenland, der greise Simeon im Tempel. Können wir es auch noch, dieses Schauen und Staunen? Der fromme Dichter Paul Gerhardt hat uns ein Krippenlied geschenkt, das wunderschön diese Haltung ausdrückt. Da heißt es an einer Stelle: "Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen; und weil ich nun nichts weiter kann, bleib ich anbetend stehen". Sollten wir uns diesen Vers nicht zu eigen machen? Dann stünden wir nicht leeren Herzens da, wenn wir nach dem Kind in der Krippe schauen. Wir könnten es sehen, schauen und staunen.
Ihr Bischof Rudolf Müller
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 12.12.2002