Gegen die Schuld des Schweigens
In Deutschland regt sich der Protest gegen einen Irak-Krieg / Friedensmarsch in Leipzig
Leipzig -"Wenn der Anlass nicht so traurig wäre, würde ich mich über die vielen Teilnehmer freuen." Der Pfarrer der evangelischen Nikolaikirche in Leipzig, Christian Führer, war am vergangenen Montagabend sichtlich gerührt von der hohen Besucherzahl beim Friedensgebet. Über 800 Menschen sind nach seiner Einschätzung in das Gotteshaus in der Leipziger Innenstadt gekommen. Etwa noch mal so viel warteten draußen, um sich dem späteren Friedensmarsch anzuschließen. Sie alle verband eins: Der Protest gegen einen neuen drohenden Krieg gegen den Irak, den die USA seit Wochen vorbereitet. Führer nennt es den "Zweiten Ölkrieg" und deutet damit an, worum es den Amerikanern eigentlich zu gehen scheint. Deshalb kann sich der Pfarrer auch nicht so recht über die hohe Teilnehmerzahl freuen.
In Deutschland regt sich zunehmend der Protest gegen eine militärische Auseinandersetzung am Persischen Golf. Und wieder ist es die Leipziger Nikolaikirche, in der die ersten Kerzen für den Frieden brennen und Gebete gesprochen werden. "Es geht heute um nicht weniger als darum, einen Krieg zu verhindern", sagt Führer in seinen einleitenden Worten zum Friedensgebet. "Wir wissen, dass es Mittel gibt, die jeden Zweck entheiligen, eines dieser Mittel ist der Krieg". Der Kampf für den Frieden sei Sache jedes Einzelnen, so Pfarrer Führer. "Besser miteinander gesprochen als aufeinander geschossen". Die Predigt im Gottesdienst hielt der Wittenberger Theologe und frühere DDR-Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer.
"Krieg ist keine Privatsache der Bush-Familie"
Schorlemmer ist bekannt für sein leidenschaftliches Auftreten. Der Wittenberger hat nicht nur zu DDR-Zeiten seine Stimme erhoben, wenn es darum ging, das Unrecht beim Namen zu nennen. Auch an diesem Abend lässt er keinen Zweifel daran, auf wessen Seite er steht. "Das wird ein Krieg bei dem der Sieger feststeht, bei dem man aber nicht weiß, wie viele Verlierer es geben wird", sagte Schorlemmer. Verlierer werden die Menschen sein, das internationale Recht und die Weltwirtschaft. Die Spirale der Gewalt werde sich weiter drehen, befürchtete der Theologe. Mit ungewöhnlich scharfen Worten ging Schorlemmer gegen die Bush-Administration vor. "Dieser Krieg ist keine Privatsache der Bush-Familie, bei der der eine das Werk des anderen fortsetzt". Gegen Bush zu sein, bedeute aber keinen Antiamerikanismus und gegen den Krieg zu sein, heiße nicht, die Politik Saddams zu unterstützen.
Schorlemmer forderte eine breite Unterstützung der Bundesregierung, die sich gegen eine Beteiligung am Krieg aussprach. Hier gebe es keinen "deutschen Sonderweg", sondern nur einen Weg aus der Krise. Diesmal schaue die Welt auf Deutschland, das sich aus den historischen Erfahrungen seiner Friedenspflicht bewusst sei. Schorlemmer: "Es fällt auf, dass die Amerikaner zum Krieg drängen, weil sie merken, dass die Kriegsgegnerschaft größer wird."
Der fühere DDR-Bürgerrechtler forderte von der deutschen Bevölkerung, vor allem aber von den Christen im Land, ein breites Friedensengagement und Zivilcourage. "Wo bleibt der Aufschrei? Niemand, der jetzt still ist, soll später sagen, er hätte nichts tun können", rief Schorlemmer in seiner Predigt. Echtes Friedensengagement müsse sich gegen einen Präventivschlag richten und sich nicht auf die Nachsorge für die Opfer konzentrieren. Auch die Kirchen dürften nicht "unpolitisch" sein und wieder einmal "die Schuld des Schweigens" auf sich laden. "Ich habe es endgültig satt zu schweigen und mich hinterher an die Brust zu schlagen und zugeben zu müssen, wie feige wir waren". Schorlemmer lobte die "klaren Worte" Papst Johannes Paul II., der sich wiederholt gegen eine militärische Auseinandersetzung am Golf ausgesprochen habe. "Sagen wir Nein zum Krieg und Ja zu allem, was den Krieg vermeidet".
Nach dem Gottesdienst setzte sich der Friedenmarsch durch die Leipziger Innenstadt Richtung Thomaskirche in Bewegung. Es regnet. Diejenigen, die keine Transparente trugen, haben ihre Schirme aufgespannt. "Eigentlich wollten wir zum amerikanischen Konsulat gehen, aber wir wollten auch nicht provozieren. Unser Motto bleibt: Keine Gewalt", sagte Pfarrer Führer. An der Thomaskirche rutscht eine junge Frau auf dem glatten Boden fasst aus, ihr Freund kann sie gerade noch auffangen. "Es ist gut, dass wir hierher gekommen sind", sagt sie später zu ihm, worauf er sie in die Arme nimmt.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Freitag, 17.01.2003