"Familienversicherung muss bleiben"
Der aktuelle Streit um die Reform der Sozialversicherungssysteme
Ein Interview mit Elisabeth Bußmann, Präsidentin des Familienbundes der Katholiken, zum aktuellen Streit um die Reform der Sozialversicherungssysteme.
Frage: Aktuell wird eine Debatte geführt, die beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen in der Krankenversicherung zu streichen. Was sagt der Familienbund dazu?
Bußmann: Man muss sich wohl heftig in diese Diskussionen einmischen, die offenbar mehr sind als bloße Test- oder Luftballons. Dahinter steht offensichtlich der Versuch zu erkunden, inwieweit die Gesellschaft sensibilisiert ist, inwieweit sie entsprechende Kürzungsmaßnahmen mitträgt. Familien sind benachteiligt in unserer Gesellschaft. Das hat das Bundesverfassungsgericht schon mehrmals den Politikern ins Hausaufgabenbuch diktiert. Daher kann man nur mit aller Deutlichkeit und Vehemenz feststellen, dass Eigenverantwortung nicht Eigenleistung voraussetzt - von Kindern schon gar nicht. Familienversicherung muss weiterhin bleiben. Der Familienbund der Katholiken wird sich entsprechend einmischen.
Frage: Sie haben das Bundesverfassungsgericht angesprochen. Haben Sie den Eindruck, dass dessen Vorgaben derzeit von Politikern und Wissenschaftlern in den Beratungsgremien mitgedacht werden?
Bußmann: Nein. Deswegen muss man diese Vorgaben nochmals deutlich benennen. 1992 im so genannten Trümmerfrauen-Urteil ist der Gesetzgeber wörtlich vom Bundesverfassungsgericht aufgefordert worden, "mit jedem Reformschritt die Benachteiligung von Familien zu verringern". Im so genannten Pflegeversicherungsurteil von 2001 ist der Gesetzgeber nochmals verbindlich verpflichtet worden, den verfassungswidrigen Zustand bis zum 31. Dezember 2004 zu ändern. Und das Gericht hat ausgeführt: "Die gleiche Belastung mit Versicherungsbeiträgen führt zu einem erkennbaren Ungleichgewicht zwischen dem Gesamtbeitrag, den Kindererziehende in die Versicherung einbringen, und dem Geldbeitrag von Kinderlosen". Ich stelle auch fest, dass vor der Bundestagswahl am 22. September 2002 die Familienpolitik bei allen Parteien erste Priorität war. Jetzt ist Familienpolitik nur noch nachrangig.
Frage: Was wäre aus Ihrer Sicht beim Umbau der Sozialversicherungssysteme zu beachten?
Bußmann: Der Umbau ist notwendig, die Sozialversicherungssysteme müssen zukunftssicher gemacht werden. Deswegen müssen die Beiträge für alle Zweige der Sozialversicherungen nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit erhoben werden. Bei der Berechnung der Beiträge des Arbeitnehmers zur Pflege-, Renten- und Krankenversicherung sollten entsprechend dem Pflegeversicherungsurteil Freibeträge für jedes Kind veranschlagt werden. Das heißt: Familien mit Kindern müssten dann geringere Beiträge zahlen. Heute ist es dagegen so, dass Kinderlosigkeit in den Sozialversicherungen privilegiert ist. Die Einführung von Kindererziehungsjahren in der Rentenversicherung wirkt sich beispielsweise nur in der Leistungsphase, nicht aber in der Beitragsphase aus.
Frage: Der Ruf nach einer öffentlichen Kinderbetreuung für Kinder unter drei Jahren ist allenthalben zu hören. Die Familienministerin sagt, es rechnet sich und schafft den Frauen Wahlfreiheit zwischen Beruf und Familie. Teilen Sie diese positiven Ansichten?
Bußmann: Die Wahlfreiheit für die Eltern muss gesichert sein - auch was die Betreuungsform angeht. Der Staat darf nicht den Familien vorschreiben, wie die Kinder zu erziehen sind. Er muss nur die Rahmenbedingungen schaffen. Frauen und Männer haben heute die gleichen Ausbildungen und beruflichen Kompetenzen und drängen damit auf den Arbeitsmarkt. Damit stellt sich das Problem der Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsleben. Die Frage nach einem besseren Betreuungsangebot ist deshalb richtig und muss auch vom Staat beantwortet werden. In einzelnen Regionen wird es eine Ausweitung des Angebots von Betreuungsmöglichkeiten geben müssen. Eltern sollen aber selbst verantworten und selbst entscheiden können. Dazu müssen sie auch in die Lage versetzt werden. Wichtig ist auch ein plurales Angebot von öffentlichen und freien Trägern. Ich kann mir neben öffentlichen Betreuungseinrichtungen auch viele andere Modelle vorstellen - zum Beispiel Tagesmütter. Mit etwas mehr Phantasie ist vieles denkbar. Es muss jedoch eine gemeinsame Verantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden geben. Die finanzielle Frage darf nicht einfach auf die Länder und Kommunen abgewälzt werden.
Interview: Gerrit Schulte
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 23.01.2003