"Den Eltern kann man nicht davonlaufen"
Martin Bormann, Sohn des Hitler-Sekretärs, erzählt in Erfurt von seinem Leben als "Täter-Kind"
Erfurt - Adolf Hitler war sein Patenonkel. Sein Vater, Martin Bormann, war "Reichsleiter der NSDAP" und ging als "Sekretär des Führers" in die Geschichte ein. Wenn Martin Bormann Junior, katholischer Christ und früherer Herz-Jesu-Missionar, bei seinen Vorträgen über das Verhältnis zu seinem Vater spricht, um als "Täter-Kind" aktiv vor den Konsequenzen des Totalitarismus zu warnen, sind Pazifismus, Nächstenliebe und christliche Grundwerte der Kern seiner Botschaft. Dies war auch am 23. Januar der Fall, als er anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus im völlig überfüllten Coelicum der Theologischen Fakultät in Erfurt über sein Leben berichtete.
"Macht mir aus dem Buben einen Nationalsozialisten"
Schon am ersten Schultag in Pullach bei München merkte Bormann, "dass mit ihm irgend etwas nicht stimmte". Er durfte weder am Morgengebet noch am Schlussgebet der anderen Schüler teilnehmen und musste draußen warten. Auf die Frage, warum das so sei, bekam er zu Hause zur Antwort: "Das brauchen wir nicht." Die Kriegszeit, so Bormann, hatte ihre Auswirkungen auch auf die Schulen. Die jungen Lehrer waren "im Felde", man aktivierte die Pensionäre, die den Sprösslingen das Einmaleins, Aufsatzlehre oder deutsche Geschichte beibringen sollten.
Der Unterricht langweilte den Knaben, er schwänzte die Schule in der Überzeugung, dass ihm aufgrund der Stellung seines Vater, der inzwischen die Bauarbeiten auf dem Obersalzberg überwachte, nichts passieren konnte. Was aber kam, war die Strafversetzung in die Eliteschule der NSDAP in Feldafing. Hier war manches anders: Kein Religionsunterricht, mehr Sportunterricht, hundertprozentige Leistung. "Macht mir aus dem Buben einen anständigen Nationalsozialisten", hat der Reichsleiter die Schulleitung angewiesen.
Aber die Geschichte verlief anders. Bormann und die Schüler seiner Klasse mussten zum Volkssturm, Gräben ausheben, wurden an "Panzer brechenden Waffen" ausgebildet. Zum Einsatz kam es jedoch nicht mehr. "Schlagt euch durch in die Heimat", lautete der letzte Befehl. Für den 15-Jährigen brach - wie für so viele - eine Welt zusammen, aber er nahm sich die Worte eines Soldaten zu Herzen: "Männer, denkt daran, dass die Kirschen wieder blühen werden. Eure Frauen, eure Kinder, eure Bräute warten auf euch. Wer jetzt in den Tod flieht, ist ein Feigling".
Unter falschem Namen im Salzburger Land
Der 15-jährige Bormann irrt in den ersten Nachkriegsmonaten zwischen dem heimatlichen Berchdesgadener und dem Salzburger Land umher, findet unter dem Decknamen "Martin Bergmann, München, Kaufingerstraße 25", die es nicht mehr gab, Aufnahme bei einem Bergbauern. In den "Salzburger Nachrichten" vefolgt er den Verlauf der Nürnberger Prozesse, liest die Zeitung auf seinem Zimmer, um sich durch seine Erregung nicht selbst zu verraten. Bormann war verzweifelt, die ersten Meldungen über die Zustände in den Konzentrationslagern gelangten an die Öffentlichkeit. "In Bergen-Belsen lagen 40 000 Leichen, die nicht verbrannt wurden". Und die Frage: "Wie hat der Vater in all die Kriegsverbrechen hineingeraten können." Im Oktober 1947 wird er als Sohn eines Hauptangeklagten des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals enttarnt. Nach einigen Monaten Haft legt er in einer Ingolstädter Klosterschule das Abitur ab, wird Theologe, Pfarrer und Kongomissionar. Nach einem schweren Autounfall lässt er sich 1971 von den Ordensgelübden dispensieren und arbeitet schließlich als Religionslehrer.
Wie das Verhältnis zu seinem Vater gewesen sei, fragte einer aus dem Publikum. "Er war eigentlich ein gutherziger, aber auch ein strenger Vater. Während des Krieges habe ich ihn vielleicht sechs Mal gesehen." Über Politik und Krieg sei in dieser Zeit nicht gesprochen worden. "Mein Herzensjunge! Ob ich dich wohl am kommenden Samstag, den 23. Januar, in Feldafing sehen werde? Dein Vati", liest Bormann eine Postkarte vor. Zu diesem Besuch ist es nie gekommen.
Den Grund erfuhr Bormann wie so vieles erst später: Stalingrad war verloren gegangen, die Kriegswende. Auf die Frage, ob er denn das Gefühl hatte, die Schulden seines Vaters abtragen zu müssen, sagte Bormann: "Kein Mensch kann die Schuld seines Vaters abtragen. Aber man kann vor seinen Eltern auch nicht davon laufen. Und man wird sie nie los".
Die Versöhnung zwischen Opfern und Tätern, aber auch zwischen anderen Konfliktgruppen wie Israelis und Palästinensern, ist für den 72-Jährigen zum Lebenselixier geworden. Seit 1987 ist Bormann Mitglied der Gruppe "Täterkinder -Opferkinder" von Professor Dan Bar-On von der Ben-Gurion-Universität in Israel. Sein Schicksal, und vor allem das seines Vaters, hat der Religionslehrer Martin Bormann in Gottes Hände gelegt. Ihm allein stehe es zu, einen Menschen zu richten.
Andreas Schuppert
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 30.01.2003