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Aus der Region

60 Jahre ohne Priester und Kirche

Über Vetter Jakob aus Sibirien

Jakob Deisling und Bischof Josef Werth "Ich könnte weinen vor Freude, dass Gott mir das geschenkt hat." Mehrmals in diesen Tagen Ende des vergangenen Jahres sagte der alten Mann - manchmal mit vor Tränen fast erstickter Stimme -diesen Satz. Für ihn war ein Traum in Erfüllung gegangen, Gott hatte seine jahrelangen Gebete erhört. Auf ganz unerwartete Weise hatte er 8000 Rubel bekommen, um im Alter von 77 Jahren den einige tausend Kilometer langen Flug aus Jakutien, der kältesten bewohnten Region der Erde, nach Nowosibirsk zum Bischof und zur Kirche antreten zu können. Von seiner Rente hätte er sich das niemals zusammensparen können. Tage vor seiner Rückreise drückte er seinen Schmerz darüber aus, dass er nun wohl nie wieder in seinem Leben eine Kirche besuchen, eine heilige Messe mitfeiern und mit einem Priester sprechen kann.
Manchmal machte er den Eindruck, ein Mensch aus einer anderen Welt zu sein: Seine Frömmigkeitsäußerungen, seine ganze Art, sein altertümlich klingender Dialekt waren so anders. Und doch spürte man, hier ist ein wahrer Bruder in Christus. Er bedankte sich bei jedem, und vor allem dankte er immer wieder Gott. Täglich feierte er die heilige Messe mit. Danach wartete er in der Kirche betend so lange, bis der Bischof für ihn Zeit hatte. Ein großes Geschenk für ihn war die Beichte - die erste nach fast 60 Jahren. Am Tag der Beichte verweilte er vom Morgen an in der Kirche - betend und fastend.
Jakob Deisling, ein Deutscher aus dem Wolgagebiet, hatte mit 18 Jahren die hunderttausendfache Verschleppung der Wolgadeutschen erlebt. Was diese Menschen Ende 1941 und später erlebten, klingt unglaublich, und es ist in Deutschland nie richtig bekannt geworden. Trotz beginnenden Winters wurden sie in der Steppe Kasachstans oder in den Wäldern Sibiriens ausgeladen und sich selbst überlassen.

Jakob verschlug es mit hunderten Leidensgenossen bis an die Lena, wohl den mächtigsten der sibirischen Ströme. Mit dem Schiff ging es dann Richtung Norden. Sie mussten im Wald arbeiten, mit primitivstem Werkzeug und ohne Erfahrung Bäume fällen, eingeschlossen Frauen und Kinder. Das alles bei Hungerrationen und mangelhafter Kleidung. Viele starben, darunter auch der Vater und zwei Geschwister von Jakob. Auf dem täglichen kilometerlangen Fußmarsch zur Arbeitsstätte und zurück betete er. Das gab ihm Kraft, diese Zeit zu überstehen. Von Kirche, Gottesdienst, Priester, Bibeln oder anderen religiösen Büchern konnte man nicht einmal träumen. "Gott hat mich nicht verlassen", sagte er heute.

In der ersten Zeit bettelten Jakob und seine Geschwister um etwas Essbares bei Dorfbewohnern. Meistens bekamen sie nichts, weil sie katholisch waren. Aber ihnen kam keineswegs in den Sinn, deswegen ihren Glauben zu verleugnen. Irgendwie schlugen sie sich durch.

Nach der Zeit der Arbeitslager und den Jahren der "Komendatura" (wesentliche Einschränkung der Bewegungsfreiheit) etwa ab 1956, zogen viele der Russlanddeutschen aus Sibirien zu Verwandten in weiter westlich oder südlich gelegene Gebiete der Sowjetunion. Jakob blieb. Für ihn war Jakutien zur Heimat geworden.

Als es Zeit war, an Heirat zu denken, fasste sich Jakob ein Herz und sprach ein katholisches Mädchen an. Doch hatte sie schon einen festen Freund. Schließlich heiratete er ein protestantisches Mädchen mit dem Vorsatz, es für den katholischen Glauben zu gewinnen. Das ist allerdings nicht gelungen. Sie haben zusammen fünf Kinder.

Zur nächsten (orthodoxen) Kirche hätte er es von seinem jakutischen Dörfchen rund 300 Kilometer, zur nächsten katholischen Niederlassung (nur mit dem Flugzeug zu erreichen) wären es über 1000. In seinem Dorf leben noch fünf ältere Leute, die katholisch sind und zu Hause beten. Eine der Frauen hat einen alten Katechismus gerettet, den sich Jakob in monatelanger angestrengter Arbeit abgeschrieben hat. Über 30 Schulhefte und 50 Kugelschreiberminen waren nötig.

Viele Fragen hatte sich Vetter Jakob vor seiner Reise schriftlich zurecht gelegt, auch im Namen der Gläubigen aus seinem Dorf. Nun legte er sie dem Bischof und anderen Priestern vor. Bereitwillig nahm er Korrekturen seiner Auffassungen und Gewohnheiten an. So hatte es immer wieder Streit mit seiner Frau gegeben, weil er die Aufforderung des Evangeliums sehr wörtlich nahm, alles den Armen zu geben. Außerdem hatte er in seiner Jugend Gott gelobt, reichlich Almosen zu geben, wenn es ihm einmal möglich sein wird, da er selbst in der Hungerzeit immer genug zu Essen bekam. Allerdings gab er "nur" die Hälfte weg, auch von den in Jakutien sehr kostbaren Kartoffeln. Er ließ sich belehren, dass es nicht klug sei, auf diese Weise Faulheit, Habgier oder Alkoholsucht mancher Menschen zu fördern. Woran er vorher gezweifelt hatte, nämlich dass auch der russische, orthodoxe Glaube wahrer christlicher Glaube ist, das ist für ihn nun klar.

Solche Menschen wie Vetter Jakob gibt es nicht in Massen. Aber es ist gut, dass es sie gibt. In Russland kann man sie noch finden, allerdings in den letzten Jahren immer weniger. Eine neue Generation wächst heran. Besonders in den Städten kommen Menschen jeden Alters, die sich für den Glauben interessieren und sich zum Teil der Gemeinde anschließen. Es sind keine Massen. Für viele ist es wirklich ein Weg zu Gott, zwar oft mit Hindernissen, manchmal mit schwärmerischen oder auch materialistischen Vorstellungen verbunden. In die Kirchen, zu Gottesdiensten, zu Jugendtreffen und anderen kirchlichen Veranstaltungen kommen junge Menschen, die es sehr ernst nehmen mit dem Christentum.

In den letzten Monaten kommen immer häufiger "Exkursionen" in die katholischen Kirchen. Schüler oder Studenten werden im Rahmen des Faches "Weltkultur" mit Bussen zur Besichtigung von einem Gotteshaus zum anderen gefahren. Die Seelsorger sehen es als wichtige Aufgabe, ihnen gut vorbereitete Erklärungen zu geben. Für die meisten ist es der einzige und erste Kontakt mit der katholischen Kirche, für manche überhaupt mit einer Kirche oder einem Priester. Manchmal kommen die jungen Zuhörer allein oder zu zweit wieder.

Die Menschen der Generation von Jakob Deisling sterben aus. Aber derselbe Geist, der ihn bewegte, über Jahrzehnte ohne Verbindung mit der Kirche aus dem Glauben an Gott zu leben und schließlich die teure und weite Reise von Jakutien nach Nowosibirsk zu machen, erweckt auch unter den schwierigen Bedingungen des heutigen Russland Gottes Liebe in jungen und reifen Menschen.

Peter Danisch

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 4 des 51. Jahrgangs (im Jahr 2001).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 28.01.2001

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