Die Heiligenstädter Palmsonntagsprozession: "Das ist Glaube zum Anfassen"
Beobachtungen eines evangelischen Journalisten
Heiligenstadt -"Es werden immer mehr Prozessionsteilnehmer", war sich Stephan Baldßun, Gemeindereferent des Pfarramtes Sankt Marien in Heiligenstadt, schon am Sonntagnachmittag sicher. Er merke es daran, dass der vor einigen Jahren zusammengestellte Liederkanon nicht mehr bis zum Ende reicht und während der Prozession wiederholt werden muss. Die offiziellen Zahlen geben ihm Recht: 7 800 Teilnehmer der traditionellen Palmsonntagsprozession wurden gezählt. Ein neuer Rekord - so viele waren es noch nie. Und hinzu kommen mindestens noch einmal so viele Zuschauer an den Rändern des Prozessionsweges durch die Heiligenstädter Innenstadt. Deren "Einzugsgebiet" ist bei weitem nicht auf das Eichsfeld oder Thüringen begrenzt, wie man an den Autokennzeichen auf den Parkplätzen erkennen konnte.
Was macht die Faszination aus?
Was macht die Faszination dieser im 16. Jahrhundert im Umfeld der Jesuiten entstandenen Tradition aus? Ist es die besondere Eindrücklichkeit der bildlichen Darstellung des Leidens Christi?
In insgesamt sechs im Zug mitgeführten Bildern wird auf das Letzte Abendmahl Bezug genommen, der betende Christus am Ölberg und seine Verspottung durch die Soldaten gezeigt. Es folgt ein rund vier Meter großes Kreuz mit einem Corpus Christi und die trauernde Maria mit ihrem Sohn im Arm, während eine Darstellung des heiligen Grabes den Zug beschließt. Doch was dem protestantischen Beobachter jenseits der Bilder vor allem auffällt, ist die große Freiheit und Selbstverständlichkeit beim öffentlichen Ausdruck des Glaubens. Ein solches "Auf die Straße gehen" kennen evangelische Christen höchstens von den Kirchentagsdemonstrationen. Doch die sind zuallererst politisch und richten sich vor allem gegen etwas. Ansonsten kann man ähnliche Ansätze höchstens noch bei manchen Friedensgebeten oder in den meist charismatisch geprägten "Jesus-Märschen" finden.
Dass die katholischen Heiligenstädter bei ihrer "Glaubens- Demonstration" mit dem Herzen dabei sind, merkt der Besucher spätestens am Gesang. Der verflüchtigt sich nämlich nicht im Tonschatten begleitender Posaunenchöre. Im Gegenteil: Diese spielen nur kurze Zwischenstücke. Und nach dem Absetzen der Instrumente füllen sich die Straßen und Plätze Heiligenstadts mit dem Gesang der Prozessionsteilnehmer. Die Passionslieder machen dabei deutlich, was ein wichtiges inneres Anliegen dieser Tradition ist: eine bewusste Solidarisierung der Gläubigen mit dem Leiden Christi.
Doch Hauptziel der ursprünglich am Karfreitag durchgeführten Prozession ist es, "damals wie heute das Wort Gottes mit allen Sinnen erfassbar zu machen", wie Baldßun betont. Dies erklärt sich nicht zuletzt aus der jesuitischen Tradition der Veranstaltung. In der "Didaktik" des Ordensgründers Ignatius von Loyola war die "Anwendung der Sinne" das zentrale Instrument der Gottessuche und Gotteserfahrung. So sollte der Heiligenstädter Zug dazu dienen, dass der einfache Mensch sich mit Hilfe seiner Fantasie vor Augen führen konnte, wie Christus für ihn gelitten und sich in der Anfechtung verhalten hat.
Den Glauben in der Öffentlichkeit zeigen
Eine Wirkung, die sich auch heute -im 21. Jahrhundert -noch entfaltet. "Das ist Glaube zum Anfassen", begeistert sich etwa Petra Schischka. Sie stammt aus einem kleinen Eichsfelddorf und ist von Hause aus evangelisch. Doch so deutlich will sie das gar nicht betonen. "Eigentlich würde ich mich mehr als ökumenische Christin bezeichnen", meint die Mutter eines fast volljährigen Sohnes. Derzeit absolviert sie eine Erwachsenenweiterbildung zur Erzieherin in der katholischen Bergschule Sankt Elisabeth in Heiligenstadt. Bei der Palmsonntagsprozession ist sie das erste Mal dabei. Schon eine reichliche Stunde vor dem Beginn um 14 Uhr hatte sie sich auf dem "Prozessionsbalkon" vor dem Theodor-Storm-Denkmal einen Aussichtsplatz auf den Zug durch die Hauptstraße gesichert. Ihr Empfinden ist, dass sowohl dieses selbstverständliche Praktizieren des Glaubens in der Öffentlichkeit wie auch das bildhafte und emotionale Erfassen von Glaubenswahrheiten in der evangelischen Frömmigkeit zu oft fehlten. Nicht zuletzt bei der religionspädagogischen Arbeit im Kindergarten spüre sie, wie wichtig ein solcher ganzheitlicher Ansatz für die Glaubensvermittlung ist.
Dass es nach diesem Palmsonntag nicht beim öffentlichen Zeichen des Glaubens allein bleibt, war Anliegen von Pfarrer Heribert Kiep in der Abschlussandacht der Prozession. Jetzt sei die Zeit, für den Frieden zu beten, für den Frieden zu wirken und ganz konkret den Frieden in den persönlichen Beziehungen zu bauen, rief er die Teilnehmer im Blick auf Leid und Krieg in dieser Welt auf. So wünschte er sich Zeichen der Versöhnung und einen echten Dialog zwischen den Generationen in Familie und Gemeinde, zwischen Lehrern und Schülern in den Schulen und auch zwischen der Kirche und den gesellschaftlich Verantwortlichen. Anliegen, zu denen wohl auch jeder evangelische Besucher "Ja" sagen konnte.
Harald Krille,
Redakteur der Gemeinsamen Redaktion der mitteldeutschen evangelischen Kirchenzeitungen in Weimar
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 17.04.2003