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Auf zwei Minuten

Weite und Enge des Lebensweges

Der Lebensweg eines Menschen ist nicht nur ein verlustreicher Weg

Pater Damian

Im Nachlass des Dichters Franz Kafka findet sich dieser kurze Text: "Ach", sagte die Maus, "die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe." -"Du musst nur die Laufrichtung ändern", sagte die Katze und fraß sie.

Ein Abiturjahrgang traf sich nach 50 Jahren. Die ergrauten Herren saßen zusammen und tauschten sich lebhaft über ihre Lebenswege aus. Jeder hatte seine eigene Geschichte mit den Erfolgen und Misserfolgen, den Erfahrungen und Widerfahrnissen der Jahre zu erzählen. Eine Erfahrung und Einsicht war bei allen die gleiche: "Die Welt wird enger mit jedem Tag", wie die Maus in der Fabel sagt. Beim Abitur stand ihnen als jungen Menschen die ganze Welt noch offen. Sie hatten große Träume. Dann mussten sie sich entscheiden für einen bestimmten Weg. Jeder Kreuzweg zwang sie, zwischen drei Möglichkeiten zu wählen, denn sie konnten nicht zugleich in drei verschiedene Richtungen gehen. Bei diesen Entscheidungen ging es unter anderem um Berufswahl, um Wahl der Lebenspartnerin. Hatten sie sich einmal entschieden, waren viele andere Möglichkeiten ausgeschlossen. Jede Entscheidung schließt Tore zu. So mussten sie viel unbegangenes Land hinter sich lassen. Je älter sie wurden, je mehr fühlten sie sich in ihrer Wahl eingeschränkt. Es stellten sich Altersbeschwerden ein, sie konnten nicht Sport treiben wie in ihrer Jugend, ihre Lebensfrische und Arbeitskraft ließ nach ... Und hat nicht Kafkas Fabel recht? Wir alle gehen der Falle des Todes entgegen, und es gibt keinen Weg zurück in die andere Richtung, denn auch dort wartet der Tod.

Der Lebensweg eines jeden Menschen geht dem Ende entgegen und wird deshalb immer enger. Ist es deshalb nur ein verlustreicher Weg? Man muss auch die andere Seite beachten: Durch Entscheidungen werden wir auch bereichert und reifen. Verzicht auf eines bedeutet Gewinn eines anderen, vielleicht Höheren und Wertvolleren. Was wir an Weite verlieren, gewinnen wir an Tiefe und an Einsicht und Weisheit. Für den gläubigen Menschen ist der Tod nicht die Falle, die ihn nicht mehr loslässt, sondern Durchgang zu einem volleren Leben. Gewinn und Verlust erscheinen dann in dem Licht, das Jesus in seinem Wort aufzeigt: "Wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren; wer es dagegen verliert, wird es gewinnen" (Lk 17,33).

Pater Damian Meyer

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 19 des 53. Jahrgangs (im Jahr 2003).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 08.05.2003

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