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Spezial

III "Beschlüsse in vollem Umfang richtig"

Der Vorabend des Aufstands

Am Morgen des 16. Juni 1953 erscheint im Gewerkschaftsblatt "Tribüne" ein Artikel ausgerechnet vom stellvertretenden FDGB-Vorsitzenden Otto Lehmann, der die beschlossene zehnprozentige Normerhöhung ausdrücklich rechtfertigt. Die Sätze: "Die Beschlüsse über die Erhöhung der Normen sind in vollem Umfang richtig", und "die Erhöhung der Arbeitsnormen um durchschnittlich zehn Prozent sind bis zum 30. Juni 1953 mit aller Kraft durchzuführen", wirken wie der Funke am Pulverfass. Der Artikel provoziert den explosionsartigen Ausbruch des seit 1945 aufgestauten Hasses.
Schon am Tag zuvor hatten die Bauarbeiter auf einigen Baustellen in der Berliner Stalinallee gestreikt und Versammlungen abgehalten. Nach hitzigen Diskussionen zwischen Bauarbeitern und SED- und FDGB-Funktionären formieren sich Demonstrationszüge. Die Demonstranten fordern die Senkung der Normen mit Transparenten wie "Wir fordern die Herabsetzung der Normen!" und rufen im Chor: "Kollegen reiht euch ein, wir wollen freie Menschen sein!" Der Demonstrationszug bewegt sich Richtung Ostberliner Stadtzentrum. Schnell werden aus einigen hundert mehrere tausend Menschen. Neben dem Hauptzug sind weitere Demonstrationszüge unterwegs. Gegen 14 Uhr versammeln sich 120 000 Menschen vor dem Haus der Ministerien. Die Demonstranten verlangen die Regierung zu sprechen und fordern: "Nieder mit der Regierung!" und "Freie Wahlen!" Der Streik entwickelt sich zur Volkserhebung. Über Moskaus ostdeutsche Statthalter Ulbricht, Pieck und Grotewohl spottet das Volk: "Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille!" Die Unruhe unter den Demonstranten wächst, die Rufe nach Ulbricht und Grotewohl werden lauter. Doch im Haus der Ministerien rührt sich nichts. Stattdessen versuchen Fritz Selbmann, Minister für Schwerindustrie, Bergbau und Hüttenwesen, und Robert Havemann die Demonstranten zu beruhigen. Selbmann wird niedergeschrieen. Ein Bauarbeiter erklärt ihm: "Wir wollen frei sein! Unsere Demonstration richtet sich nicht nur gegen die Normen. Wir kommen nicht nur von der Stalinallee, sondern aus ganz Berlin. Das hier ist eine Volkserhebung. Wir fordern freie und geheime Wahlen!" Plötzlich sagte jemand: "Wenn Grotewohl und Ulbricht nicht mit uns reden wollen, dann gibt es Generalstreik!" Auf dem Rückweg zur Stalinallee erobern die Demonstranten einen Lautsprecherwagen: "Morgen Generalstreik! Treffpunkt: Strausberger Platz, um sieben Uhr!"
Als bekannt wird, dass am Abend eine "außerordentliche Parteiaktivtagung" stattfinden wird, wo Ulbricht und Grotewohl Stellung nehmen wollen, setzen sich tausende Demons-tranten in Marsch, es kommt zu ersten Zusammenstößen mit der Staatsmacht. Die Volkspolizei meldet zwischen 17.30 und 22 Uhr zahlreiche Menschenansammlungen und Demonstrationen in der Stärke zwischen 200 und 1000 Personen. Die sozialen Forderungen haben längst eine politische Dimension erreicht: "Nieder mit der SED!" Carsten Kießwetter

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 0 des 53. Jahrgangs (im Jahr 2003).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Mittwoch, 04.06.2003

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