V Rotarmisten retten das SED-Regime
Der Aufstand wird blutig niedergeschlagen
In den späten Nachmittagsstunden haben die sowjetischen Einheiten die Lage wieder unter Kontrolle. Ost- Berlin wird vom Westteil der Stadt weitgehend abgeriegelt. Das Hamburger Abendblatt schreibt unter der Dachzeile Das war Berlins 17. Juni -3000 Rotarmisten und 10.000 Volkspolizisten gegen Demonstranten eingesetzt am 18. Juni 1953: Die letzte Nacht in Ost-Berlin verlief ruhig. Totenstille herrschte in den Grenzgebieten des Ostsektors, in denen Stunden zuvor noch Zehntausende von Ost-Berliner Männer und Frauen gegen das Sowjetzonen-Regime demonstriert hatten. Hier und dort flammten Lagerfeuer biwakierender Rotarmisten auf. Aus dem Raum Zossen-Großbeeren rollte eine sowjetische Panzerdivision zur Verstärkung nach Ostberlin.
Wie ein Lauffeuer verbreitet sich der Widerstand gegen die seit Jahren herrschenden drakonischen Methoden einer Bolschewisierung der 1949 von Moskau errichteten Deutschen Demokratischen Republik im ganzen Land. Gefängnisse werden gestürmt, politische Gefangene befreit, Regierungs- und Parteidienstellen verwüstet. Die Volkspolizei schwankt auch hier! Die sowjetische Militärführung verhängt über 167 der 217 Land- und Stadtkreise den Ausnahmezustand, der in Berlin und Leipzig am längsten, bis zum 9. Juli 1953 anhielt. Die Besatzer greifen flächendeckend zur Waffe und das Standrecht wird von ihnen im ganzen Land Gesetz. So werden aus dem Sommerlager von Biederitz Rotarmisten zur Niederschlagung des Aufstandes der Arbeiter nach Magdeburg-Neustadt abkommandiert. Aber es gibt auch auf der Seite der Unterdrücker Helden: Entgegen dem Schiessbefehl greifen dutzende Sowjet-Soldaten nicht zur Waffe. Am 18. Juni 1953, in einer Waldlichtung, werden 18 Soldaten von einem Spezialkommando einer Sondereinheit erschossen. Unter den Erschossenen sind der Sergeant Nikolaj Tjuljakov, Gefreiter Aleksandr Shcherbina und Soldat Vasilij Djatkovskij. Die Namen der anderen Hingerichteten sind nicht bekannt. Insgesamt sollen über 40 Rotarmisten wegen Befehlsverweigerung erschossen worden sein.
In über sechs Bezirkshauptstädten, 22 Kreisstädten und 44 weiteren Ortschaften kommt es zu blutigen Zusammenstössen. Etwa 20 Funktionäre, Stasi-Mitarbeiter und Volkspolizisten werden vom Volk gelyncht. Schnell kristallisieren sich Schwerpunkte heraus: Berlin, Bitterfeld, Halle, Gera, Jena, Leipzig, Magdeburg, Brandenburg und Görlitz. Meist bis gegen Mittag gelingt es den Demonstranten in einer Reihe von Städten Haftanstalten, Polizeidienststellen, Einrichtungen der Staatssicherheit, Gebäude der Stadtverwaltungen sowie der SED und Massenorganisationen zu erstürmen. Insgesamt werden schätzungsweise 1400 Häftlinge befreit. Die deutschen Polizei- und Sicherheitskräfte sind vielerorts in der Defensive, müssen sich zurückziehen. Schließlich erfolgt, zeitlich leicht versetzt, der massive Einsatz sowjetischer Truppen und neu herangeführter deutscher Polizeikräfte. Während in Berlin schon gegen 10 Uhr die Panzer langsam in Richtung Stadtzentrum rollen, greifen in den Bezirken die sowjetischen Besatzungstruppen erst mittags bzw. im Laufe des Nachmittags ein. Insgesamt werden 16 Divisionen gegen die Aufständischen mobilisiert, davon allein drei Divisionen mit 600 Panzern in Berlin. Ulbricht und andere führende SED-Genossen werden im Schutz der Sowjets in Karlshorst mittels Standleitungen auf dem Laufenden gehalten. Mehrere Quellen berichten, dass Ulbricht die Macht als schon verloren betrachtet. Nur das massive Eingreifen sowjetischer Truppen rettet letztlich die SED-Herrschaft.
Im DDR-Rundfunk wird um 14 Uhr eine Erklärung von Ministerpräsident Grotewohl verlesen. Darin wird ausdrücklich noch einmal die Rücknahme der Normerhöhungen erklärt. Der Aufstand jedoch sei "das Werk von Provokateuren und faschistischen Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer aus deutschen kapitalistischen Monopolen". Alle "Arbeiter und ehrlichen Bürger" werden aufgefordert, mitzuhelfen "die Provokateure zu ergreifen und den Staatsorganen zu übergeben". Um 12.30 Uhr hat die Bundesregierung in Bonn auf einer eiligst einberufenen Sondersitzung beschlossen, wegen der Unruhen in Ost-Berlin laufend Verbindung mit der Alliierten Hohen Kommission zu halten. Bonn ist besorgt, dass eine für den Abend in Westberlin anberaumte Solidaritätskundgebung zur Eskalation führen könnte. Um 14.30 Uhr wiederholt Adenauer in einer Regierungserklärung vor dem Bundestag den Appell Jakob Kaisers vom Vortag und beschwört die Deutschen im Osten, sich nicht zu unbedachten Handlungen hinreißen zu lassen. Schon am Vormittag sind die alliierten Stadtkommandanten in West-Berlin zu einer Sitzung zusammengekommen. Vergeblich haben sie versucht, eine Verlegung des dicht an der Sektorengrenze gelegenen Veranstaltungsortes der Westberliner Sympathiekundgebung zu erreichen. Sie warnen den amtierenden Bürgermeister Walter Conrad und den Polizeipräsidenten Johannes Stumm vor "ernsthaften Konsequenzen", falls sich Westberliner an den Unruhen im Ostteil der Stadt beteiligen sollten. Am Abend weisen sie in einer Presseerklärung die Unterstellung, alliierte oder Westberliner Stellen hätten die Demonstrationen herbeigeführt, scharf zurück. Zwischen 21 und 5 Uhr wird DDR-weit eine Ausgangssperre verhängt. In den Abendstunden kann der Befehlshaber der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland nach Moskau melden, dass im Land weitgehend Ruhe herrsche und die Lage unter Kontrolle sei.
Am Abend geht der Westberliner Regierende Bürgermeister Ernst Reuter, der sich zum Europäischen Städtetag in Wien aufhält, in einer Rede auf die Lage in Berlin ein: "Niemand kann auf die Dauer wagen, angesichts der ganzen Welt ein solches System einer verfluchten Tyrannei aufrecht zu erhalten. Wie viele Menschen sich an diesem Tag im ganzen Land an den Demonstrationen und Streiks beteiligen, ist bis heute unklar. Die Zahlenangaben schwanken zwischen 400.000 und 1,5 Millionen Menschen. Carsten Kießwetter
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Mittwoch, 04.06.2003