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Die ganze Nacht waren die Schreie zu hören

Hannelore Conrad über den 17. Juni 1953 in Bitterfeld

Der Tag begann wie jeder Wochentag: Oma kam aus der Morgenandacht, es wurde gefrühstückt und dabei sprachen wir von den Ereignissen in Berlin. Während dessen packte ich mein Frühstück in die Schultasche und verabschiedete mich von Oma und Mutti.

Wie gewohnt ging ich mit meiner Freundin Richtung Schule. Obwohl es ein normaler Wochentag war, stellten wir fest, dass an diesem Morgen die Stadt einen gespenstischen Eindruck machte. Menschen, denen wir sonst begegneten, waren heute nicht zu sehen. Wir guckten auf die Uhr und stellten fest, dass wir in der richtigen Zeit lagen. Auf dem Schulhof stellten wir vorerst keine Besonderheiten fest. Nachdem der Unterricht begonnen hatte, hörten wir Motorenlärm. Wir blickten auf den Schulhof und erkannten die auffahrenden LKW's. Von den Ladeflächen sprangen Männer in Arbeitskleidung und stürmten in die Schulgebäude. Kurze Zeit darauf wurde die Tür aufgerissen, drei Arbeiter stürmten in den Raum, einer schnappte unsere Lehrerin und führte sie raus. Die anderen befahlen uns nach Hause zu laufen. Beim Verlassen des Schulgebäudes mussten wir mit ansehen, wie unsere Lehrer mit Schreien und unter Prügeln auf die LKW's verfrachtet wurden.

In panischer Angst lief ich zum Geschäft meiner Oma. Einige Zeit später war die ganze Bevölkerung von Bitterfeld auf den Beinen. Inzwischen sickerte der Grund für den Aufstand durch: Man war mit der Regierung nicht mehr einverstanden und wollte das durch eine Revolution ändern. Die Arbeiter der Großbetriebe von Bitterfeld und Wolfen waren dem Beispiel ihrer Kollegen aus Berlin gefolgt und in Streik getreten. Nun waren diese auf dem Weg zum Rathaus in Bitterfeld, wo eine Kundgebung stattfinden sollte.

In der elften Stunde war es soweit. Der Marktplatz vor dem Rathaus war schwarz vor Menschen. Die aufgefahrene Polizei hatte versucht die Massenansammlung auseinanderzutreiben, doch die Arbeiter kippten die Fahrzeuge um und verprügelten die Polizisten. Der Streikführer verlas die Forderungen an die Regierung. Von den zehn Forderungen haben sich mir zwei besonders eingeprägt.

Erstens: Zurückziehung der Polizei von den Zonengrenzen und sofortiger Durchgang für alle Deutschen. (Meine Mutti hatte meinen Vati während der Stationierung der Deutschen 1941 in Belgien kennen und lieben gelernt. Nach der Heirat 1942 musste sie ihre Heimat laut einer Anweisung Hitlers verlassen. Wir lebten seitdem bei Oma -der Mutter meines Vaters -in Bitterfeld. Für meine Mutti und für mich bestand keine Möglichkeit, nach Belgien zu reisen, um Verwandte zu besuchen.

Zweite Forderung: Sofortige Freilassung der politischen Häftlinge und Rückkehr aller Gefangenen. (Seit Kriegsende galt mein Vater als vermisst. Bis zu diesem Tag wurden wir ab und zu in unserer Hoffnung bestärkt, Vater würde zurückkehren, weil bis 1952 immer wieder Heimkehrer aus Gefangenschaft zu verzeichnen waren.)

Nach der Kundgebung zogen die Arbeiter zum Gericht. Im Hof befand sich das Gefängnis, wo alle "Politischen" bis zu ihrer Verurteilung einsaßen. Unter anderem hatte man acht Tage vorher einen Fleischermeister, dessen Geschäft dem meiner Oma gegenüberlag, wegen einer angeblich "staatsfeindlichen" Äußerung über die Fleischversorgung verhaftet. Die Arbeiter holten jetzt die Häftlinge heraus. Alle, auch der Fleischermeister, waren völlig durchnässt. Wenig später erfuhren wir, dass sich die Häftlinge im Keller befunden hatten, und dass das Wasser dort bis Brusthöhe gestanden hatte.

Gegen 15 Uhr hörte wir ein dumpfes Grollen. Wenig später konnten wir russische Panzer von unserem Wohnzimmerfenster aus sehen. Während wir noch draußen spielten, wurden wir Augenzeugen, wie russische Soldaten mit angelegtem Gewehr Frauen jeden Alters zu den Panzern brachten. Manche schrien Furcht erregend. Die ganze Nacht waren Schreie zu hören. Zwei Tage und Nächte standen die Panzer, bis sie wieder verschwanden. Inzwischen hatte es sich herumgesprochen, dass die gefangen genommenen Frauen von den Russen vergewaltigt worden waren. Bei Weigerung hätte man sie erschossen.

Mit dem Abzug der russischen Truppen, war der gute Vorsatz der Arbeiter gescheitert. Es war bis zum 17. Juni 1953 schon schlimm, aber was danach kam, war noch schlimmer und unwürdiger für die Menschen in der DDR.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 0 des 53. Jahrgangs (im Jahr 2003).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Mittwoch, 11.06.2003

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