Ich suchte Gott und fand ihn nicht; ich suchte meine Seele und fand sie nicht; ich sucht meinen Brud
Nächstenliebe ist geschenkte Fähigkeit
Aus einem Leserbrief an eine Tageszeitung:
Pfingstmontag, 11.30 Uhr, an der Auferstehungskirche. Die Zahl der Gläubigen, die dem Portal entströmt, ist beachtlich. Auf dem Weg zum Friedhof sehe ich drüben auf der anderen Seite, keine fünfzig Meter von der Kirche entfernt, im grellen Sonnenlicht einen Mann gekrümmt auf dem Bürgersteig liegen, der sich vergeblich aufzurichten versucht. Viele Kirchenbesucher gehen vorbei, bleiben auch stehen, bücken sich und gehen ohne Hilfeleistung weiter. Einen Herrn, der mit seiner Familie sein Auto besteigen will, frage ich, ob er mit mir hinübergehen würde, um zu helfen. Er stellt lakonisch fest: "Der ist sicher nur betrunken" und fährt ab ... da hält vor dem Gefallenen ein roter Mittelklassewagen, aus dem ein kräftiger junger Mann in blauer Latzhose und T-Shirt steigt. Der Gestürzte ist über und über voll Blut, das weiter aus Mund und Nase strömt. Leider wohl ein Betrunkener, aber zusätzlich verletzt. Der junge Fahrer stellt den gestürzten Mann auf die Beine und packt den Betrunkenen, der verlegen stammelt: "Ich mache ihnen doch alles schmutzig!", ohne Weiteres auf den Beifahrersitz. Leider habe ich mir sein Autokennzeichen nicht gemerkt, aber eins konnte ich dem Fahrer wenigstens noch sagen: "Für mich sind Sie der einzig wahre Christ!" Ich bin weder sehr bibelfest noch ein großer Kirchengänger. Aber hat nicht Christus einmal gesagt: "Was ihr dem Geringsten unter euch tut, das tut ihr mir?" Ich habe mich geschämt über so viel Gleichgültigkeit und "Unmenschlichkeit", und das im Angesicht der Kirche und Pfingsten.
Wir wissen: Die praktische Liebe zu notleidenden Nächsten macht den Kern der Nachfolge Christi aus. Wer Menschen in Not selbstlos hilft, der tritt in die Beziehung zu Jesus Christus, die ihn auch mit Gott verbindet. Wer zu notleidenden Menschen gut ist, verhält sich darin gut zu Jesus Christus. Aus einem russischen Konzentrationslager wird ein Wort überliefert, das diese Wahrheit treffend ausdrückt: "Ich suchte Gott und fand ihn nicht; ich suchte meine Seele und fand sie nicht; ich sucht meinen Bruder und fand alle drei."
Wenn Menschen den Willen Gottes dadurch erfüllen, dass sie den notleidenden Mitmenschen helfen und so Christus gehören, warum soll man dann noch ausdrücklich Christ werden? Es scheint doch auch einfacher zu gehen! "Soll man" Christ werden? Besser ist die Frage: "Darf man" Christ werden? Die Antwort: Weil der Christ weiß, wem er Dank sagen kann! Der Theologe Medard Kehl sagt: "Wer in seiner Nächstenliebe zugleich den kennt und mit Namen nennt, der diese Liebe wirklich ,heilend' macht, Jesus also, der durch seine Liebe bewirkt, dass auch unsere Liebe heilbringend ist, eben weil wir an seiner erlösenden Liebe teilhaben können, der wird ein zutiefst dankbarer Mensch werden. Denn er verdankt seine heilende Liebe ausdrücklich jemand anderem: dem Herrn. Die ausdrückliche Beziehung zu Jesus Christus (im Gebet, im Glaubensbekenntnis, in den Sakramenten) hat vor allem den Sinn, diese Dankbarkeit und dieses Angewiesensein zu bezeugen...Befreiende Nächstenliebe ist für ihn nicht zuerst eigene Leistung, sondern geschenkte Fähigkeit."
Pater Damian Meyer
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Dienstag, 24.06.2003