Wenn Sucht das Leben bestimmt
Aus der Arbeit der Sucht- und Drogenberatung in Stendal
Stendal (dw) - "Aus ganz normalen Familien kommen ganz normale Suchtkranke" - Plakate mit diesem Slogan hängen in den unterschiedlichsten Gestaltungsvarianten an allen Wänden des Büros von Ewald Kittner. Der Stendaler Caritas-Sozialarbeiter hat sich bereits zu DDR-Zeiten auf Sucht- und Drogenberatung spezialisiert. Während damals vor allem Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit
Themen in der Beratungspraxis waren, werden der Caritasmitarbeiter und sein Team in den letzten Jahren zunehmend mit Missbrauch und Abhängigkeit von illegalen Drogen wie Cannabis, Ecstasy, Kokain und Opiaten, aber auch mit Glücksspielsucht und Essstörungen konfrontiert.
Bei allen Wandlungen, die sich auf diesem Gebiet in den letzten Jahren selbst in der ländlich geprägten Altmark vollzogen haben, einer Schwierigkeit begegnet Ewald Kittner nach wie vor: Scham und Angst halten viele Betroffene davon ab, die Krankheit aktiv zu bekämpfen. Stattdessen reiben sie und ihre Familien sich bei dem Versuch auf, die Sucht zu vertuschen. "Es ist keine Schande, suchtkrank zu sein. Rund fünf Prozent der Bevölkerung, quer durch alle Schichten der Gesellschaft, sind davon betroffen. Eine Schande ist es nur, nichts dagegen zu tun", sagt der Sozialarbeiter seinen Klienten häufig.
Die Hilfen, die er den Rat Suchenden in der Caritas-Beratungsstelle anbieten kann, sind so unterschiedlich wie ihre Lebensgeschichten und die Anliegen, mit denen sie kommen. Angefangen bei den besorgten Eltern, die ein paar Krümel Cannabis im Zimmer ihres halbwüchsigen Kindes gefunden hatten und die sich nach einem ausführlichen Beratungsgespräch wieder verabschiedeten, bis hin zu der schwer heroinabhängigen und essgestörten Aussiedlerin, die mit ihrem Vater in die Beratung kam und die Kittner in Zusammenarbeit mit anderen Fachleuten jahrelang begleitet hat. Er vermittelte der jungen Frau einen Platz zur Drogenentgiftung und später eine Langzeittherapie in einer Suchtklinik. Als sie die Therapie abbrach, motivierte er sie zu einem zweiten, dann erfolgreichen Versuch in einer anderen Einrichtung. Lange Zeit ließ sie sich immer wieder von dem Milieu mitreißen, aus dem sie stammte. Der Caritasberater wartete in dieser Zeit keinesfalls nur in seinem Arbeitszimmer auf ihren nächsten Anruf. Hausbesuche gehören für ihn ganz selbstverständlich zum Berufsalltag.
Nachdem sich sein anfänglicher Verdacht bestätigt hatte, dass die Frau von ihrem Vater sexuell missbraucht wurde, wurde es für ihn besonders schwierig. Unter anderem erhielt er in dieser Zeit massive Drohungen aus dem Freundeskreis des Vaters.
Die meisten Beratungsbeziehungen verlaufen weniger dramatisch, einige enden allerdings auch weniger hoffnungsvoll als im Fall der Aussiedlerin, die heute in einem von Drogen-Aussteigern betriebenen Café jobbt, während ihr Vater eine lange Gefängnisstrafe verbüßt.
Ob ein Suchtkranker "die Kurve kriegt", hängt Ewald Kittner zufolge ganz entscheidend von den Ressourcen ab, die er mobilisieren kann. Eine seiner Hauptaufgaben im Beratungsgespräch sieht er darin, solche - oftmals verborgenen - Antriebsquellen ausfindig zu machen, die ein suchtmittelfreies Leben wieder lebenswert erscheinen lassen können. Bei der jungen Heroinabhängigen war es beispielsweise ihre künstlerische Begabung, aus der sie Kraft für den Ausstieg schöpfen konnte. Für gläubige Menschen, die im Übrigen in gleichem Maße von Suchtkrankheit betroffen sind wie die Gesamtbevölkerung, kann auch der im positiven Sinne gelebte Glaube eine solche Kraftquelle für ein Leben ohne Drogen sein.
Ewald Kittner freut sich, dass der Caritasverband des Bistums Magdeburg die Sucht- und Drogenberatung in nächster Zeit zu einem Schwerpunkt seiner Arbeit machen will. Sie gehöre in Sachsen-Anhalt zu den Bereichen der Sozialarbeit mit sehr schlechter Lobby, bedauert er. So müssten die Beratungsstellen beispielsweise einen sehr hohen Anteil von Eigenmitteln, etwa 20 Prozent und mehr, aufbringen.
Anfang April hat die Caritas-Beratungsstelle Stendal eine Außenstelle der Sucht- und Drogenberatung im katholischen Gemeindezentrum Osterburg für den nördlichen Teil des Landkreises Stendal eröffnet und dort auch einen zusätzlichen Arbeitsplatz geschaffen. Damit hat der Caritasverband die Sicherung der Sucht- und Drogenberatung im gesamten Landkreis übernommen. Nicht zuletzt könne durch das verstärkte Engagement deutlich werden, dass die katholische Kirche auch zu eher schwierigen Themen etwas zu sagen hat und sich helfend anbietet, hofft Kittner.
Ein wesentliches Standbein des Caritasteams in der Altmark ist Präventionsarbeit. Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass Caritasmitarbeiter eine Informationsveranstaltung in einer Berufsschule oder anderen Bildungseinrichtung des Landkreises anbieten. Besonderes Augenmerk wollen Kittner und seine Kolleginnen künftig auf die Gründung von Selbsthilfegruppen legen. Für viele Betroffene sei es hilfreich zu erleben, dass sie mit ihrer Krankheit nicht alleine dastehen. Die Gruppen könnten dabei helfen, offensiv mit der Krankheit umzugehen, anstatt sich schamvoll zu verstecken.
Die Sucht- und Drogenberatung der Caritas in Stendal befindet sich in der Brüderstraße 25, Tel. (0 39 31) 71 55 66; die Außenstelle in Osterburg in der Wallpromenade 25. Angeboten werden Einzel- und Gruppengespräche, Krisenintervention, Vermittlung zur Entgiftung und Langzeittherapie, Hilfen beim Umgang mit Behörden, Hausbesuche sowie Informations- und Präventionsveranstaltungen.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Mittwoch, 23.05.2001