Die Kluft wird wachsen
Caritas und Diakonie fragten: Bleibt Thüringen sozial?
Erfurt (mh) -Die sozialen Veränderungen in Deutschland könnten sich nach Ansicht des Erfurter Sozialwissenschaftlers Ronald Lutz auch auf die Sozialarbeit auswirken. "Es besteht die Gefahr einer Spaltung der Sozialarbeit in einen hochprofessionellen Sektor für diejenigen, bei denen die Chance einer Wiedereingliederung in die Gesellschaft besteht, und einen Sektor für Grundversorgung auf niedrigstem Niveau mit Suppenküchen und Obdachlosenheimen", sagte Lutz während einer Fachtagung über die Perspektiven der sozialen Entwicklung in Thüringen. Hintergrund dieser Befürchtung sind die sozialen und arbeitsmarktpolitischen Reformvorhaben der Bundesrepublik (Stichworte: Agenda 2010 und Job-Center statt Arbeitsamt). "Diese Reformen werden zu einer stärkeren Individualisierung und Privatisierung der sozialen Riskien führen." Die Kluft zwischen denen, "die in der Gesellschaft drin sind, und denen, die draußen stehen, wird wachsen", sagte Lutz.
"Bleibt Thüringen sozial?" hieß die Frage, der Vertreter von Caritas und Diakonie auf der Tagung in Erfurt nachgingen. Lutz antwortet darauf mit Ja. "Die Frage ist nur: Wie?" Für die Suche nach einer Antwort zeichnete er deshalb eine statistische Grundlage. Einige Beispiele für von ihm genannte, zum Teil prognostizierte Zahlen: Bis 2050 wird die Bevölkerung in Thüringen um etwa ein Drittel zurückgehen. Der Anteil der Über-80- Jährigen verdreifacht sich, während der der Unter-15-Jährigen um ein Drittel zurück geht. Lutz: "Wissen Sie schon, wer Ihr Zivi sein wird, wenn Sie alt sind und Pflege brauchen?" Eine steigende Durchschnittsarbeitslosenzeit, eine doppelt so hohe Überschuldung privater Haushalte wie im Westen und eine steigende Sozialhilfequote, auch wenn sie in Thüringen noch niedriger ist, als in westdeutschen Städten -das waren weitere Fakten, die Lutz nannte. Deutlich machte er darauf aufmerksam, dass inzwischen mehr und jüngere Kinder von sozialen Problemen betroffen seien, und dass Armut allmählich kein Skandal mehr sei. "Armut wird normal. In einzelnen Stadtteilen entwickelt sich schon so etwas wie eine Kultur der Armut."
Nicht alles dem Markt unterwerfen
Gibt es Alternativen? Zur Agenda 2010 sieht Lutz keine, aber die Gesellschaft könne einige alte Debatten neu aufgreifen. Dringend nötig sei etwa die Wiederentdeckung der Kraft der Gemeinschaft. "Wenn der Staat sich zurückzieht, müssen Verwandtschaft und Nachbarschaft wieder eine größere Rolle spielen." Außerdem forderte Lutz eine Diskussion über so genannte "öffentliche Güter", die nicht privatisiert und den Marktmechanismen unterworfen werden dürften. Dazu gehörten Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit und Altersvorsorge. Angesichts einer möglicher Resignation des Einzelnen vor der Kraft der Wirtschaft verwies Lutz auf die Deutsche Bahn: "Die Bahncard mit 50 Prozent Rabatt ist ja auch wieder da."
"Wir wollen, dass in Thüringen unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Wandels die Frage der sozialen Gerechtigkeit nicht zu einer Frage am Rande wird. Wir wollen, dass die soziale Balance gewahrt bleibt. Und das bedeutet: Die Lasten der notwendigen Einsparungen dürfen nicht nur und auch nicht in erster Linie den Geringverdienenden, den Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern zugemutet werden", erklärten Vertreter von Caritas und Diakonie während der Tagung.
Die Caritas verstehe sich als Stimme und Anwalt der Armen, unterstrich Caritasdirektor Bruno Heller (Erfurt). Die Kirchen und ihre Sozialverbände dürften aber nicht zum "Pannendienst der Gesellschaft" verkommen. Heller: "Wir verstehen uns als Partner der Politik und erheben auch den Anspruch Politikberatung zu machen." Solidarität und Gerechtigkeit nannte er dafür als Stichworte. Der Caritasdirektor kritisierte den immer häufigeren Wegfall des Attributes "sozial" im Zusammenhang mit Marktwirtschaft. "Unsere Aufgabe ist es, einen brutalen Kapitalismus zu verhindern."
Das Evangelium oder die christliche Soziallehre seien keine politischen Modelle, sie enthielten aber politische Grundsätze, betonte der Heiligenstädter Salesianerpater Franz-Ulrich Otto, der sich in der Jugendsozialarbeit engagiert. Mit Blick auf das Viertel der Jugendlichen, "die nicht mitkommen", forderte er eine an den Bedürfnissen junger Menschen ausgerichtete Sozialarbeit. Das sei um so wichtiger, weil "in der Jugendzeit die Voraussetzungen geschaffen werden, dass jemand seinen Lebensunterhalt erwirtschaften und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann".
Diesen integrativen Aspekt von Sozialarbeit unterstrich auch der Caritasdirektor. Mit Blick auf die von Lutz aufgezeigte Gefahr der Spaltung der Sozialarbeit sagte er: Sozialarbeit habe immer das Ziel, dem Menschen zu helfen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. "Deshalb gibt es in unseren Suppenküchen nicht nur Brot und Wasser, sondern auch Sozialarbeiter."
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Dienstag, 22.07.2003