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Auf zwei Minuten

Etiketten oder ein Leben im Glauben

Es ist immer besser, zunächst ein Bild auf sich wirken zu lassen und zu fragen, was es uns sagt

Pater Damian

Anthony de Mello sagt in einer seiner Weisheitsgeschichten: "Das Leben ist wie eine Flasche voll berauschenden Weines. Einige begnügen sich damit, die Schilder auf der Flasche zu lesen. Einige probieren den Inhalt. Buddha zeigte seinen Schülern einst eine Blume und forderte jeden auf, etwas über sie zu sagen. Eine Weile betrachteten sie sie schweigend. Einer hielt eine philosophische Abhandlung über die Blume. Ein anderer verfasste ein Gedicht, wieder ein anderer ein Gleichnis. Alle waren bemüht, einander an Tiefsinn auszustechen. Sie stellten Etiketten her! Mahakashyap blickte auf die Blume, lächelte und sagte nichts. Nur er hatte sie gesehen. -Wenn ich einen Vogel genießen könnte, eine Blume, einen Baum, ein Menschengesicht! Aber leider! Ich habe keine Zeit! Ich bin zu sehr damit beschäftigt, die Aufschriften zu lesen und selbst welche zu verfassen. Nie war ich auch nur einmal trunken von dem Wein."

Mir geht es oft auch so, weil ich mir nicht die nötige Zeit nehme. Wenn ich mir zum Beispiel in einem Museum Gemälde anschaue, sehe ich fast sofort auf das kleine Schild, das den Maler und den Titel des Bildes nennt. Das ist wohl nicht der rechte Zugang zu Kunstwerken. Es ist besser, zunächst einmal einfach in Ruhe das Bild zu betrachten, es auf sich wirken zu lassen. Was sagt mir das Bild? Was löst es in mir aus? Dann mag man auch wissen wollen, welchen Titel der Maler seinem Werk gegeben hat. Es ist viel bereichernder, einige Bilder intensiv auf sich wirken zu lassen, als sich oberflächlich einen Überblick über viele verschaffen zu wollen.

Geht es uns nicht in vielen Fällen so, dass wir nur auf die Beschriftung schauen, statt den Inhalt auszuprobieren? Wie steht es beispielsweise mit unseren eigenen Glaubenserfahrungen, unseren Erfahrungen mit Gott "aus erster Hand"? Wenn der Glaube nur Doktrin, eine Reihe von Glaubenssätzen bleibt, die wir als wahr annehmen, dann sind wir über die Beschriftung noch nicht zum Inhalt vorgedrungen. Über die theologische Theorie des Glaubens lässt sich prächtig diskutieren, und man kann immer neue Etiketten schreiben. Ein lebendiger Glaube -das Glaubensleben -aber wird unser Denken und Fühlen und unser Tun im Alltag bestimmen: Brot, von dem wir uns ernähren, und Wein, der uns Freude schenkt. Und dann kann es geschehen, dass wir uns schwer tun, über einen solchen, von persönlicher Erfahrung gedeckten Glauben zu reden. Da schweigen wir lieber, wie Mahakashyap in de Mellos Geschichte.

Pater Damian Meyer

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 31 des 53. Jahrgangs (im Jahr 2003).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 03.08.2003

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