Eine einzigartige Regelung zur Suizid-Beihilfe gerät zusehends in die Kritik
Die Eidgenossenscaft läßt freizügig beim Suizid assistieren. Jetzt regt sich Widerstand.
Zürich - Die Schweiz hat bekanntermaßen Probleme mit Zuzüglern. Inzwischen auch mit solchen, die nur zum Sterben kommen. Mit ihrer weltweit einzigartigen Regelung für Suizidbeihilfe könne die Schweiz "bald eine gigantische Zahl von Suizid-Touristen" anziehen, sagte Georg Bossard vom Zürcher Institut für Rechtsmedizin dem in Zürich erscheinenden "Tages-Anzeiger". Wer sich in der Schweiz wegen einer schweren Erkrankung das Leben nehmen will, kann sich von entsprechenden Vereinen assistieren lassen. Im vergangenen Jahr geschah dies nach Schätzungen etwa 200 Mal. Ein Viertel der Sterbewilligen waren Nichtschweizer.
Während die älteste und mit 50 000 Mitgliedern größte Freitod-Organisation "Exit" nur Schweizer oder in der Schweiz wohnhafte Personen aufnimmt, bieten "Ex International" und "Dignitas" ihre Dienste ohne Rücksicht auf die Nationalität an. In der Kartei von "Dignitas" stehen nach eigenen Angaben "deutlich über die Hälfte" Ausländer, die im Bedarfsfall den Giftcocktail bekommen.
Grundlage für die organisierte Suizidhilfe ist Artikel 115 des Schweizer Strafrechts, der die Beihilfe zur Selbsttötung straffrei stellt. 748 Menschen verhalf allein "Exit" zwischen 1990 und 2000 so zum Tod -in den letzten Jahren dreieinhalb Mal mehr als zu Anfang des Zeitraums. Nicht nur der Sterbetourismus, sondern auch dieser Anstieg hat schon vor geraumer Zeit mehrere Parlamentsabgeordnete veranlasst, Anträge auf eine Neufassung des Artikels 115 zu stellen.
Bald in jedem Pflegeheim
Vorerst soll die Nationale Ethikkommission eine Stellungnahme zu Suizidhilfe und Sterbehilfe erarbeiten. Dass das Parlament sich noch vor den Wahlen im Oktober an dieses brisante Thema traut, gilt als unwahrscheinlich. In welche Richtung aber eine künftige Rahmengesetzgebung gehen könnte, deutet eine jüngste Empfehlung der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) an. Demnach soll das Personal von Pflegeeinrichtungen nicht am Suizid ihrer Patienten mitwirken, weil diese "in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zum Personal" stünden. Außerdem hat die betreffende Institution einen sachverständigen Arzt beizuziehen, der sicherstellt, dass der Entschluss zum Suizid nicht auf Druck Dritter, wegen einer fehlerhaften Diagnose, psychischer Erkrankung oder mangelnder Betreuung erfolgt. Auch soll eine Bedenkfrist eingehalten werden - eine mögliche Hürde für den "Sterbetourismus". Ausländische Patienten starben teils schon am Tag ihrer Ankunft in Zürich
Doch auch eine solche Regulierung bleibt für Markus Zimmermann-Acklin, katholischer Theologe in Luzern und Berater der SAMW, ein "hölzernes Eisen": Ein rechtlicher Rahmen für die Suizidhilfe würde zugleich ihre Akzeptanz in der Gesellschaft festigen. Wenn der assis-tierte Suizid in Ärztehand komme, nähme die Häufigkeit von Selbsttötungen um ein Vielfaches zu, fürchtet Zimmermann-Acklin - weil die Patienten ihren Ärzten vertrauten. Zudem sieht die Empfehlung in einer Fußnote vor, dass assistierter Suizid künftig zum Angebot jeder Pflegeeinrichtung gehört.
In den Niederlanden, wo eine wesentlich liberalere Gesetzgebung besteht, gab es im Jahr 2002 nach offiziellen Angaben 1672 Fälle von aktiver Sterbehilfe und 184 Fälle von assistiertem Suizid. Ein Zahlenverhältnis, das Zimmermann-Acklin so kommentiert: "Wer zwischen Suizidhilfe und Tötung wählen kann, wählt die Tötung." Grund sei die Angst vor Fehlschlägen, wenn ein Patient selbst Hand an sich lege. In einem von "Exit" begleiteten Fall dauerte es 18 Stunden bis der Tod eintrat.
Burkhard Jürgens
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Montag, 11.08.2003