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Aus der Region

"Sie waren gütig zu mir”

Gedenkfeier in Auschwitz zum 30. Jahrestag des Maximilian-Kolbe-Werkes

Ein lauer Sommerwind streicht über das weite Areal, weht den Duft frisch gemähten Grases über das Gelände. Über den nahen Beskiden bauschen sich weiße Wolken, die die Träume mitnehmen auf große Reise. Irgendwo in der Ferne tuckert ein Traktor, mit dem ein Bauer den Pflug durch den Acker zieht. Doch es ist ein verfluchter Boden, und auch der Sturm von Jahrhunderten kann nicht wegfegen, was hier an Not und Elend und Mord und Totschlag verbrochen wurde. Für Millionen Menschen, die an diesem Ort gequält wurden, war die Reise zu Ende, und auch die Träume waren ausgeträumt. Auschwitz ist kein idyllischer Flecken. In den lang gestreckten Baracken nistet noch das Grauen, hemmt den Fuß in die finsteren Räume. Lange Reihen von Schlafpritschen, dreifach übereinander, zerbrochene Betonplatten auf festgestampftem Lehm und Reste von Stroh in den Winkeln, die noch aus der Zeit von vor 60 Jahren stammen könnten, lassen Bilder entstehen von dem, was die Menschen damals erlitten haben.

Alina Dabrowska hat nahezu 50 Jahre gebraucht, bis sie es gewagt hat, wieder hierher zu kommen. "Zu viel Angst”, gesteht sie. Angst vor den Schatten der endlosen Häftlings-Kolonnen, denen sie zu begegnen vermeinte, und vor der Krankenbaracke, in der sie mit pseudowissenschaftlichen Experimenten gepeinigt wurde. "Ich wurde mit Typhus geimpft”, erklärt sie. Als sie dann doch das ehemalige Lager besuchte, kam sie "mit einer Deutschen”. Und die Schatten verblassten angesichts der Erschütterung, die sie bei ihrer Begleiterin festgestellt hat. Einer Mitarbeiterin des Maximilian-Kolbe-Werkes, die sich ganz konkret bemühte um Versöhnung, um Verständigung und um das Verstehen, wie es zu "Auschwitz” kommen konnte. Jetzt ist sie wieder an diesem Ort, der heute Oswiezim heißt -mit vielen anderen ehemaligen Häftlingen, um das 30-jährige Bestehen des Maximilian-Kolbe-Werkes zu begehen.

"Ich empfinde keinen Hass für die Deutschen”, sagt Alina. "Man kann nicht ein ganzes Volk verantwortlich machen für die Verbrechen, die einzelne begangen haben. Hass hat mir niemals im Leben etwas bedeutet.” Als sie im Alter von 18 Jahren in Warschau verhaftet wurde, wusste sie, weshalb: "Ich war am Widerstand beteiligt. Ich war ein Feind.” Dann kam sie nach Auschwitz-Birkenau. Später, im Januar 1945, wurde das Lager vor der anrückenden Roten Armee evakuiert. Mit Zehntausenden anderen Häftlingen wurde sie nach Ravensbrück getrieben, dann nach Buchenwald. Von dort ging der Transport weiter. Und irgendwo auf dem langen Marsch entlang der Elbe gelang es ihr zu fliehen. "Das habe ich bisher sehr selten erzählt: Ein Wachsoldat hatte bereits auf mich und drei andere Frauen angelegt, die mit mir fliehen wollten, aber ein anderer sagte zu ihm, und diese Worte werde ich nie vergessen, genau diese Worte: ‚Lass sie gehen', sagte er.”

Nicht Rache wollte sie, aber Genugtuung. Als Mitarbeiterin des polnischen Außenministeriums war sie beteiligt an der Unterzeichnung eines Abkommens mit der Bundesrepublik Deutschland, das den Überlebenden der medizinischen Experimente eine kleine Rente zubilligte. "Dann kam das Maximilian-Kolbe-Werk zu mir, hat mir sehr geholfen, mit Medikamenten, mit Wäsche, mit einer Kur im Schwarzwald. Sie geben, ohne zu fragen. Dafür bin ich dankbar.” Jetzt habe sie viele deutsche Freunde, "die waren sehr gütig zu mir”.

Ihr Bruder kam im Gefängnis um, ihre Mutter ist vor Kummer gestorben, aber "das sind Sachen, die längst vorbei sind. Das Leben ist anders. Ich kann nicht das ganze Leben als Opfer betrachtet werden, ich habe ein normales Leben, ich will ein normales Leben führen, und ich bin Partner im Kolbe-Werk”.

An diesem Tag trägt sie ein blau-weiß gestreiftes Halstuch mit dem roten Dreieck, dem Zeichen für politische Gefangene. Gestreift wie die Häftlingskleidung. "Deshalb habe ich keine gestreiften Kleider mehr getragen -seit 60 Jahren nicht mehr. Nur im Halstuch, das ist genug. Und ich freue mich”, fügt die 80-Jährige schmunzelnd hinzu, "dass ich noch in so gutem Zustand bin.”

Heute also trifft sich Alina Dabrowska mit etwa 40 weiteren ein solches Halstuch tragenden Männern und Frauen, den polnischen Vertrauensleuten des Maximilian-Kolbe-Werkes. Vor dem Tor zur Hölle mit der zynischen Aufschrift "Arbeit macht frei” verhalten die ehemaligen KZ-Häftlinge für einige Minuten in stillem Gedenken an die Abertausende, die durch dieses Tor getrieben wurden. Angst mag sie bewegt haben und die bange Frage, wie sie das durchstehen sollten: die Kälte, den Hunger, die Schläge, und ob sie ihre Familien wiedersehen würden.

"Seit 30 Jahren versucht das Maximilian-Kolbe-Werk, stellvertretend für alle, die in der geschichtlichen Last leben, Brücken der Versöhnung zu bauen”, erinnert Monsignore Helmut Puschmann (Dresden) an die Anfänge. "Es hat sich zwischen uns eine Brücke entwickelt, wir haben uns kennen gelernt, viele sind Freunde geworden,” fasst der Vizepräsident des katholischen Werkes zusammen.

Vor der Todeswand im hinteren Teil des Lagers, vor der ungezählte Häftlinge auf das Erschießungskommando warten mussten, legt Alina Blumen nieder, stellt eine Kerze vor die vergitterten Fenster. Viele sind gebeugt vom Alter und von der Last der Erinnerungen. Von einer Seitentür führt ein spärlich beleuchteter Gang zur Todeszelle Pater Maximilian Kolbes, der an Stelle des zum Tode verurteilten Familienvaters Frantiszek Gajowniszek in den Hungerbunker ging. Ein vergittertes Fenster hoch oben lässt etwas Licht ins Dunkel -das Letzte, was der polnische Priester gesehen haben mag, bevor man ihn mit einer Phenolspritze ermordete.

Als "Märtyrer der Versöhnung” wurde der polnische Priester 1982 heilig gesprochen.

Michael Dorndorf

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 0 des 53. Jahrgangs (im Jahr 2003).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Mittwoch, 17.09.2003

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