Wer ist ein Mystiker?
Eine Antwort von Pater Damian Meyer
Über Mystik und Mystiker ist viel geschrieben worden. Es fallen uns spontan die großen Mystiker und Mystikerinnen der Vergangenheit ein, wie Meister Eckhart, Johannes Tauler, Gertrud von Helfta, Mechthild von Magdeburg, Hildegard von Bingen. Oft wird Mystik in Zusammenhang gebracht mit einer über das gewöhnliche Gnadenleben hinausliegenden außerordentlichen Begnadung und Begabung, ja mit ungewöhnlichen religiösen Phänomenen wie Visionen, Ekstasen und Prophezeiungen. Es gibt aber auch die Mystik des christlichen Alltags: Das Innewerden des in der Taufe begründeten göttlichen Lebens, das sich in uns entfaltet. In diesem Sinn ist jeder, der zur Taufe berufen ist, auch zum Mystiker berufen.
Man könnte die Mystik beschreiben als Verwurzelung in Gott. Alles, was ich denke und wünsche, was ich spreche und tue, schöpft seine Kraft und Nahrung aus Gott, wie ein Baum aus der Wurzel. Und je intensiver ich mir dessen bewusst werde, je intensiver ich diese Beziehung zur Wurzel pflege, desto lebendiger ist mein geistliches Leben. Dabei kommt es nicht darauf an, ob ich in einem beschaulichen Lebensstil viel Zeit zum Beten und Betrachten habe, oder ob ich mich ganz dem Dienst am Mitmenschen widme. Entscheidend ist, wie fest ich mich von Gott ergreifen lasse, oder -bildlich gesprochen -wie tief meine Wurzeln in Gott hinein reichen und von ihm gespeist werden. Die folgende Geschichte zeigt das: "Es waren zwei Brüder, die in jungen Jahren schon der Welt entsagt hatten. Nun starben sie beide. Der eine hatte ein Leben der Aszese und des Gebetes geführt, der andere hatte sich im Dienst der Armen und Kranken aufgerieben. Man fragt den alten Mönch Pambo, welcher von den beiden Brüdern nach seinem Urteil der Vollkommenere gewesen sei. Der Greis verweigert die Antwort. Er will nicht urteilen, wo Gott allein zuständig ist. Er untersucht nicht, wer Mystiker ist, und erst recht nicht, wer der vollkommenere ist, denn beides -auch das erste -weiß oft nur Gott. Aber ist es nicht möglich, dass beide Brüder Mystiker waren? Der eine mag Gott in Einsamkeit und Beschauung erfahren haben, der andere kann Gott im Armen und Kranken begegnet sein. Bei dem großen Beter leuchtet das ohne weiteres ein. Aber könnte nicht auch der andere, der den Kranken dienende Bruder, wirklich erschüttert, bis in die letzten Tiefen ergriffen und erfahrend -also auf mystische Weise -die Wahrheit des Wortes Christi erlebt haben: Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan'? Mystik und Aszese sind Brüder, nicht Gegner!" (Jakob Bergmann).
Pater Damian Meyer
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Mittwoch, 17.09.2003