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Namen haben jetzt Gesichter

Gruppe aus dem Bistum Dresden-Meißen besuchte Partnergemeinden in Russland

"Die unbeschreibliche Freude unserer Gastgeber darüber, dass wir uns auf den Weg zu ihnen gemacht hatten, wir aus dem ,reichen Westen', um sie, die kleinen Gemeinden in Südrussland, zwischen dem Kaspischen und dem Schwarzen Meer, zu besuchen -diese Freude wird wohl allen Reiseteilnehmern lange in Erinnerung bleiben. Ebenso die Konfrontation mit einer Fülle von Gegensätzen, wie sie wohl größer nicht sein können. Informationen über das Land, seine Situation, die Menschen und die Kirche vor Ort sind unerlässlich zur Vorbereitung auf eine solche Reise -aber dort zu sein und vieles hautnah zu erleben, das fühlt sich dann doch ganz anders an. Ich möchte diese Erfahrungen nicht mehr missen", sagt Elisabeth Meuser. Die Mitarbeiterin der Pressestelle des Bistums Dresden-Meißen gehörte zu einer Gruppe von acht Frauen und Männern, die kürzlich Südrussland besuchten. Sie hat auch diesen Bericht verfasst:

Seit einigen Jahren gibt es Partnerschaften zwischen Pfarreien im Bistum Dresden-Meißen und Pfarreien im Bistum St. Clemens in Südrussland. Sie entstanden auf Wunsch des dortigen Bischofs Clemens Pickel, der bis zu seiner Bischofsweihe Priester des Bistums Dresden-Meißen war. Diese Partnerschaften sollen den Pfarreien in Russland helfen zu überleben. Um den Kontakt, der bislang hauptsächlich aus der Verbundenheit im Gebet und spärlichem Briefwechsel mit etwas finanzieller Unterstützung bestand, zu intensivieren, machte sich eine Gruppe aus dem Bistum Dresden-Meißen Anfang September auf den Weg nach Wolgograd.

Vielleicht muss in Russland alles viel größer sein

Der erste Tag diente dem Akklimatisieren und dem Kennenlernen der Stadt -schließlich waren die meisten zum ersten Mal in Russland. Zugleich gab es aber auch Einblicke in die Arbeit der Caritas und in die Situation der katholischen Gemeinde. Ins Auge fielen recht bald die Gegensätze zwischen dringend sanierungsbedürftigen Häusern -in manchen hätte hierzulande niemand mehr wohnen dürfen -und glänzenden Neubauten von Banken und Reichen, zwischen ungepflegten Grünstreifen und parkähnlichen Anlagen, zwischen am Straßenrand sitzenden älteren Menschen, die Gartenfrüchte verkauften, und fein gekleideten Passanten.

Die Gegensätze in Russland sind größer als in Deutschland. Größer -wie vieles andere auch: So gibt es in Wolgograd, das von 1925 bis 1961 Stalingrad hieß, viele Kriegs- und Heldendenkmäler mit monumentalen Ausmaßen. Ob es eine Art Ersatzreligion ist, weil der Mensch sich etwas schaffen muss, das größer ist als er, wenn er Gott "abgeschafft" hat? Vielleicht muss hier aber auch alles so groß sein, weil das Land unendlich groß ist -allein die eine Million Einwohner zählende Stadt Wolgograd ist 80 Kilometer lang und 15 Kilometer breit.

Für die Christen in Wolgograd spielt die "Muttergottes von Stalingrad" eine wichtige Rolle. Dieses Bild hat ein deutscher Soldat, der Arzt, Künstler und evangelische Pfarrer Kurt Reuber, zu Weihnachten 1942 im "Kessel" auf die Rückseite einer Landkarte gemalt. Das Original ist heute in der Berliner Kaiser- Wilhelm-Gedächtniskirche zu sehen. Eine Nachbildung schmückt den Altar der katholischen Kirche St. Nikolaus. Unter Stalin wurde sie als Lagerraum genutzt und nach dem Zweiten Weltkrieg als "Klub der Eisenbahner". Das Gebäude verfiel, bevor es 1992 als Ruine der katholischen Kirche zurückgegeben wurde.

Der Kaplan berichtete von der schwierigen seelsorglichen Situation: von der Einsamkeit der Priester, die fast alle aus dem Ausland stammen und denen die russische Sprache und Mentalität deshalb erst einmal fremd sind, von der geringen Zahl der Gläubigen und dem Kampf mit den Behörden, deren bürokratischer Aufwand zusätzlich ermüdet und zermürbt.

Nach dem Tag in Wolgograd teilte sich die Gruppe: Jeweils zwei fuhren in die Partnergemeinden Wolgodonsk, Nowotscherkassk, Astrachan und Elista. Hier wurde deutlich, dass Gemeindepartnerschaft heißt, miteinander auf dem Weg zu sein, an den Dimensionen des Lebens der anderen teilzunehmen: Stundenlang und hunderte Kilometer ging es durch die endlose Weite der Steppe. Die Größe der Pfarrgemeinden ist unvorstellbar: Sie haben nicht selten einen Durchmesser von 600 Kilometern. Entfernungen bis 1000 Kilometer gelten als "nicht weit".

Die kleinen katholischen Gemeinden bestehen hauptsächlich aus alten und jungen Leuten -Menschen mittleren Alters und vor allem die Männer fehlen fast vollständig. Viele Gemeinden schrumpften in den vergangenen Jahren durch die Ausreise der Wolgadeutschen und das Abwandern junger Leute nach Moskau und St. Petersburg, um dort besser bezahlte Arbeit zu suchen.

Die finanzielle Situation der meisten Einwohner ist haarsträubend: Ein junger Lehrer verdient 1500 Rubel im Monat. Viele bekommen weniger, eine Verkäuferin nur 700 Rubel, von denen sie 500 für die Miete braucht. Ein Brot kostet sechs Rubel, ein Liter Benzin knapp zwölf. Bei den immensen Entfernungen machen allein die Benzinkosten einen unübersehbaren Posten im Pfarrhaushalt aus. Den Luxus einer Flugreise können sich die Priester in Russland nur selten leisten. Statt dessen nehmen sie die langwierige und strapaziöse Busreise auf sich, wenn sie nach Moskau fahren. Von Elista aus dauert eine solche Reise 20 Studen. Für viele Gemeindemitglieder ist selbst das unbezahlbar.

Eduard kümmert sich um Straßenkinder

Unter diesen Bedingungen ist klar, dass jeder Einzelne, der zur Gemeinde gehört, mit seinen Fähigkeiten gefragt ist, zum Beispiel Eduard in Astrachan: In der Stadt gibt es offiziellen Angaben zufolge 4500 Straßenkinder -die Dunkelziffer lässt sich nicht schätzen. Eduard, ein etwa 50 Jahre alter Armenier, hat in einem kleinen, einfachen Haus, in dem er selbst wohnt, acht Kinder untergebracht, die er von der Straße aufgelesen hat. Tagsüber kommen etwa 20 Kinder hierher, um ein wenig Gemeinschaft zu erleben. Ältere Kinder, die Eduard früher von der Straße geholt hatte, helfen ihm jetzt. Außerdem bewachen einige Jungen die Kirche, ein Mädchen führt den Haushalt. So resozialisiert Eduard die Kinder, die von ihren Eltern geschlagen oder zur Prostitution verkauft wurden, die mit den Alkoholproblemen und den Gewaltausbrüchen der Eltern konfrontiert und selbst oft drogensüchtig waren. Eduard wirkt auf sie so überzeugend, dass sich manche taufen lassen. Angefangen hatte es damit, dass Eduard Geld und Pass gestohlen wurden. Im Pass lag ein Gebetsbild; daraufhin brachten die Kinder den Pass zur Kirche. Eduard kam mit ihnen ins Gespräch und beschloss, sich um sie zu kümmern. In einem der vergangenen Jahre erhielt er für seine Arbeit einen Preis von UNICEF.

Beschränkung auf das Wesentliche

Bereits im 13. Jahrhundert kamen Franziskaner nach Astrachan. Hier steht heute auch die älteste katholische Kirche des südlichen Russland, erbaut im 18. Jahrhundert. In anderen Orten, wie in Elista, versammeln sich die Gemeinden in den kleinen blauen Holzkirchen. Das Hilfswerk "Renovabis" hat 24 solche Kirchen gestiftet.

Die Partnerschaft zwischen Pfarreien in Deutschland und in Südrussland ist durch den Besuch intensiver geworden. Namen haben buchstäblich ein Gesicht bekommen. Persönliche Beziehung wurde möglich. Da ist es fast nebensächlich, dass die Verständigung zuweilen schwierig war: Nach ein paar Tagen Eingewöhnung erinnerte sich mancher der deutschen Besucher wieder an längst vergessene russische Vokabeln; aber auch mit Brocken von Englisch, Deutsch, Polnisch oder Italienisch war oft ein kleines Gespräch möglich. Wir lernten, uns auf das Wesentliche zu beschränken und mit Geduld, Aufmerksamkeit und gutem Willen das zu üben, was jemand "Sprache der Liebe" nannte. Dass wir uns trotz der fremden Sprache im Gottesdienst zu Hause fühlten, ließ uns eindrücklich erfahren, dass wir alle zu derselben Familie Jesu Christi gehören.

Erst im Rückblick bemerkten wir, wie sehr das Tagesevangelium im Gottesdienst am ersten Tag in Russland auf unsere Gruppe passte: Jesus heilte die Schwiegermutter des Petrus, die mit Fieber im Bett lag; und sie stand auf und sorgte für Jesus und seine Jünger. Ähnlich erlebten wir die Zeit in den Partnergemeinden: Wir kamen in dem Bewusstsein und mit der Absicht, durch die direkte Begegnung den Pfarreien zu helfen, besser auf eigenen Füßen stehen zu können. Das Mitgebrachte dient sicherlich auch dazu. Aber zugleich erfuhren wir uns umsorgt und reich beschenkt. Und die spürbare große Freude der Gastgeber, dass wir die weite Reise auf uns genommen hatten, ließ manche Zweifel aus der Vorbereitungszeit vergessen.

Elisabeth Meuser

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 42 des 53. Jahrgangs (im Jahr 2003).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Montag, 20.10.2003

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