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Auf zwei Minuten

Lob des Vergessens

Offenbar vergessen wir unangenehme Ereignisse leichter als angenehme und schöne

Pater Damian

Die Fahrgäste im ICE werden vor dem Aussteigen durch eine Leuchtschrift darauf aufmerksam gemacht, ihr Gepäck nicht zu vergessen: "Haben Sie auch nichts vergessen?" Vergesslichkeit ist eine Schwäche, gegen die besonders ältere Menschen ankämpfen. Sie bringt viele Unannehmlichkeiten und Peinlichkeiten mit sich. Besondere Übungen helfen ihnen, ihr Gedächtnis zu tranieren.

Eine gutes Gedächtnis zu haben, schafft viele Vorteile, ja, ist einfach zum Leben notwendig. Etwas anderes aber ist es, bewusst etwas aus dem Gedächtnis zu verbannen suchen: eine unangenehme Erfahrung, eine mir zugefügte Beleidigung, eine Niederlage, überholte Daten und Einzelheiten. Wenn ich mit meinem PC etwas geschrieben habe, werde ich gefragt, ob ich das speichern möchte oder nicht. Mit einem Mausklick kann ich darüber mühelos entscheiden. Beim menschlichen Gedächtnis ist das nicht so einfach. Es braucht eine besondere Anstrengung. Der israelische Schriftsteller Elazar Benyoetz formuliert das so: "Schau dich um, hast du nichts vergessen zu vergessen?" Es gibt Ereignisse und Erfahrungen, die man besser nicht in Erinnerung rufen sollte, weil sie einen zu sehr beschäftigen und unfrei machen.

Ein Beispiel: Vor Jahren hat mich ein Kollege ungerechterweise sehr scharf kritisiert, ja mich beschimpft. Das hat mich damals tief verletzt. Wir haben die Sache später in Ruhe besprochen. Der Mitbruder hat sich entschuldigt, und ich habe ihm verziehen. Jedes Mal aber, wenn ich ihm begegnete, kam die Angelegenheit in mir wieder hoch und ich spürte eine Abneigung gegen ihn aufsteigen. Es hat lange gebraucht, bis ich wieder frei war und unvoreingenommen mit ihm reden konnte. Ich hatte die Sache vergessen können. Es scheint ja glücklicherweise so zu sein, dass wir unangenehme Ereignisse und Erfahrungen leichter aus dem Gedächtnis verlieren als angenehme und schöne.

Für unser geistliches Leben ist es wichtig, nicht -rückwärts schauend -unsere Schwächen und Fehler, unser Versagern und unsre Schuld zu "speichern", sondern nach vorn zu schauen. Man muss einfach in sich aufräumen, besser: sich von Gott ent-schuldigen lassen. Nur so kann man frei und bereit sein für die Anforderungen der Gegenwart und Zukunft. Der heilige Paulus, der vor seiner Bekehrung die Christen eifrig verfolgt hat und mit dieser Belastung leben musste, hat das wohl auch gemeint, wenn er sagt: "Eines aber tue ich: Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist" (Phil 3,13).

Pater Damian Meyer

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 49 des 53. Jahrgangs (im Jahr 2003).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 04.12.2003

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