Zwei Münzen im Brunnen
Thomas Federsel war Teilnehmer der Malteser-Wallfahrt mit Behinderten nach R
Rom / Wittenberg / Köthen -Schon einmal war Thomas Federsel in Rom. 1991 war das. Da hat er sich durch das Touristengewimmel gedrängelt am Trevi- Brunnen und natürlich eine Münze in das schäumende Nass geworfen. Wie fast jeder hier, vorschriftsmäßig über die Schulter. Denn das verheißt nach einer Legende die Wiederkehr in die Ewige Stadt. Nicht erst seit Fellinis "La Dolce Vita" ist die imposante Kulisse der Fontana di Trevi ein touristisches Muss. Inklusive der "Rückfahrkarte" durch Münzwurf. Ohne Frage, dass sich auch der damals 30- Jährige die für alle Fälle schon mal sichern wollte. Reiselustig war der gelernte Sanitärinstallateur aus Kropstädt bei Wittenberg ja schon immer.
Wenn er von früher, von seinen Reiseerlebnissen erzählt, wird der sonst so zurückhaltende Mann lebhaft. Man spürt, wie ihn diese Erinnerungen bewegen. Wie er etwa mit seiner katholischen Kirchengemeinde unterwegs war, in der er sich schon als Junge engagierte. Absoluter Höhepunkt: Zum Jahreswechsel 1994/95 eine Reise auf die Philippinen anlässlich des zehnten Weltjugendtages, wo er in Manila mit einer Million junger Leute Papst Johannes Paul II. bei einem Gottesdienst erlebt hatte. "Im Dschungel waren wir auch", erinnert er sich. "In einem Dorf haben wir eine Schule besichtigt, die mit Spendengeldern aus dem Magdeburger Bistum gebaut wurde. Mit eigenen Augen zu sehen, was mit den Spenden geschieht, das war schon ein ganz besonderes Gefühl."
Erinnerungen, die bleiben. Gerade weil Thomas Federsel jetzt ein so ganz anderes Leben lebt, in dem Reisen bei weitem nicht selbstverständlich sind. Mit Mühen und Beschwernissen verbunden, die er damals beim ersten Rombesuch nicht mal erahnen konnte. Das rutschige Pflaster, die Stufen runter zum Brunnen -das war ja alles kein Problem für den jungen gesunden Mann, der er war. Jetzt, ein Dutzend Jahre später, ist er im Rollstuhl hierher gefahren worden. So wie die meisten anderen der über 300 Menschen mit Handicap, die im Jahr der Behinderten an dieser Rom-Fahrt teilnehmen. Organisiert vom Malteser Hilfsdienst und begleitet von rund 800 freiwilligen Helfern, die in ihrer Freizeit und auf eigene Kosten dafür sorgen, dass solch eine Reise überhaupt möglich wird. Helfer wie der 29-jährige Stefan Hess, der hauptberuflich in Köthen die Dienststelle der Malteser leitet und jetzt in seinem Urlaub mit in Rom dabei ist als Begleiter für Thomas Federsel. Er hilft ihm etwa beim morgendlichen Duschen oder auch in den Spezial-Bus zu kommen, der mit einer Hebebühne für die Rollstühle ausgerüstet ist.
Die Lebenslust ist wiedergekehrt
Auch zum Trevi-Brunnen hat der blonde hochgewachsene Malteser- Helfer seinen Schützling im Rollstuhl geschoben, ihn für ein paar Schritte gestützt, damit er auch auch dieses Mal wieder eine Münze werfen kann -fürs Wiederkommen. Denn die Reise- und wohl auch die Lebenslust ist wiedergekehrt bei Thomas Federsel, obwohl es lange Jahre ganz und gar nicht danach aussah. Seit jener Reise, bei der er auf den Philippinen ins neue Jahr hinein gefeiert hat. Unbeschwert und voller Zuversicht. 1995 -es wurde zum Schicksalsjahr für den untersetzten kräftigen Handwerker, der an seinem Beruf so viel Freude hatte. "Bäder einzurichten, gerade nach der Wende, das hat richtig Spaß gemacht." Leise kommt das, nachdenklich. Denn es ist nur noch Erinnerung.
Im Frühjahr jenes verhängnisvollen Jahres wurde ihm gekündigt, schlechte Auftragslage. Freilich: "Andere hat es auch getroffen", vermerkt er bescheiden. Dann kam jener Tag im August, an den sich Thomas Federsel wie auch an die Monate danach einfach nicht erinnern kann. Er ist gestürzt auf dem gepflasterten Hof des elterlichen Wohnhauses in Kropstädt. Das haben sie ihm später erzählt.
Doch wie und was geschah, er weiß es nicht: "Ich habe lange gebraucht, bis ich meine Umwelt wieder wahrgenommen habe." Schädelbasisbruch, Gehirntrauma, zeitweise Amnesie. Das linke Auge ist blind, das rechte zeigt nur noch ein Drittel des normalen Gesichtsfeldes. Von einem Tag zum anderen wurde der damals 33-Jährige in ein gänzlich anderes Leben buchstäblich geschleudert. Damit nicht genug, erlitt er nach schweren Depressionen einen zweiten Unfall, von dem weitere Körperschäden blieben.
Erst nach und nach hat er tapfer gelernt, dieses andere Leben mit Helfern zu meistern. "Wenn früher einer ,Gesundheit' gewünscht hat, habe ich nicht groß darüber nachgedacht", sinniert er und schwärmt, wie gerne er Auto gefahren ist: "Dieses Gefühl von Freiheit ..." Dass ihm der Geruchssinn fehlt, empfindet der sensible Mann besonders schmerzlich: "Frischer Kaffee oder die Luft nach dem Regen." Und dennoch: "Das mit den Augen ist schlimmer." Seine Lieblingssendung "Wer wird Millionär", die Schrift mit den Fragen -er kann sie nicht erkennen. Computer? Lesen? Unmöglich.
Nach dem Tod von Vater und Mutter lebt er jetzt allein. Bei aller dankbar angenommenen Hilfe, die durch die Pflegestufe mit Betreuung durch die Arbeiterwohlfahrt gesichert ist, der Zuwendung von Bekannten, Verwandten -das Leben ist ungleich eingegrenzter als früher. Wie bei allen Behinderten.
Da ist diese Romfahrt wie ein Ausbruch. Gewiss: Das Programm mit Besichtigungen, Veranstaltungen und als Höhepunkt einer Messe im Petersdom, nach welcher der Papst die Gruppe noch extra empfängt, ist beschwerlich. Und doch empfinden wohl alle wie jene weißhaarige Rollstuhlfahrerin: "Wir sitzen doch meist fest daheim, können nur selten raus. Und wenn uns so etwas wie diese Reise geboten wird, vergessen wir jegliche Mühe. Wir sind dankbar, saugen alles auf wie ein Schwamm."
"Das ist ein Erlebnis, von dem man lange zehrt"
Aus ihrer und vielen anderen Meinungen, die auf dieser Reise zu hören sind, wird klar, dass solch ein Unternehmen vor allem auch ein Kraftquell ist. Für Behinderte wie Helfer. Genau das meint auch Stefan Hess: "Das Größte ist, die Augen glänzen zu sehen, die Leute lachen zu hören. Das ist ein Erlebnis, von dem man lange zehrt." Dass auch sein Schützling "unheimlich Spaß gehabt" hat, freut den Betreuer natürlich besonders.
Morgen geht es wieder nach Hause. Zwei lange Tage im Bus, noch eine Übernachtung, dann ist Thomas Federsel wieder in seiner gewohnten Umgebung. Wie er sich fühlt? "Euphorisch könnte man sagen." Und er schwärmt: "Die Ewige Stadt, das südliche Flair, das Geistige ... Wenn es irgendwie geht, will ich unbedingt wiederkommen."
Margit Boeckh
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 11.12.2003