"In Gott versteckt"
Der einzige Grund, dass wir existieren, ist die Liebe Gottes
Was berühmte Theologen mit enormem Aufwand von spekulativen Überlegungen und mit großen Worten dargestellt haben, wird manchmal von "Alltagsmystikern" viel überzeugender und schöner beschrieben. Kinder haben oft eine mystische Tiefe in ihren Äußerungen über Gott, die einen nur erstaunen lassen kann. Was wir oft gedankenlos als selbstverständlich hinnehmen, treibt sie zu unermüdlichem Fragen an. Die vor kurzem verstorbene Theologin Dorothee Sölle berichtet: "Wir alle sind Mystiker und Mystikerinnen. Ich erzähle eine Geschichte von einem meiner Enkelkinder, um das klar zu machen. Sie war fünf Jahre alt und ich erzählte ihr etwas. Da fragte sie: Wo war ich, als das passierte? Und ich sagte: Du warst noch nicht auf der Welt. Da sagt sie: Wo war ich denn? Und ich -blöd, wie Erwachsene nun einmal sind -: Du warst noch nicht geboren. Aber irgendwo muss ich doch gewesen sein!, sagt sie. Und ich sagte so etwas hilflos: Du warst noch versteckt. Das Kind denkt einen Augenblick nach und sagt: Claro, ich war in Gott versteckt."
Fromme, gottverbundene Menschen -nennen wir sie Mystiker -erkennen Gott aus der Erfahrung. Sie haben Gott in allen Dingen gefunden. Für sie ist Gott in ihnen versteckt, nicht nur in den heiligen Zeichen der Sakramente oder im Wort der Heiligen Schrift. Auch in der Blume am Wegrand, im Gesang der Vögel, in einem Musikstück, in einem Lied, in Menschen, die ihnen begegnen. Noch schöner und tiefer ist die Aussage des Kindes: "Ich selbst war in Gott versteckt. Er hat mich von Ewigkeit her vorgesehen und geplant." Der Philosoph würde hier vielleicht von den "ewigen Ideen" Gottes reden. Paulus (oder ein Paulusschüler) sagt im Loblied auf den Heilsplan Gottes: "Denn in Jesus Christus hat er uns erwählt vor der Erschaffung der Welt ...; er hat uns aus Liebe im Voraus dazu bestimmt, seine Kinder zu werden durch Jesus Christus" (Eph 1,4- 5). Der einzige Grund, dass wir existieren, ist die Liebe Gottes: Er hat von Ewigkeit Ja zu uns gesagt und uns eine Zukunft bei ihm selbst gegeben. Darüber haben viele geistliche Schriftsteller Erbauliches und Erhabenes geschrieben. Ich möchte Her aber wieder die Aussage eines Kindes zitieren, die uns unmittelbar anspricht. Die Schriftstellerin Vera Leon hat fünf- bis achtjährige Kinder aufgesucht und ihnen verschiedene Begriffe vorgelegt, wie Leben, Geheimnis, Freund, Armut und auch den Begriff "Liebe". Sie sollten sagen, was ihnen einfällt, wenn sie diese Wörter hören. Die schönste und tiefste Aussage -und die wurde auch als Buchtitel gewählt -lautet: "Ohne Liebe wäre ich futsch."
Pater Damian Meyer
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 11.12.2003