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Aus der Region

Glück oder Gnade?

Katholische Akademien zur Mystik

"Über die Grenzen der Wirklichkeit -Mystische Erfahrungen heute" heißt eine Veranstaltungsreihe der katholischen Akademien Ostdeutschlands. Bis Ende April finden dazu zahlreichen Vorträge und Diskussionen statt. Der TAG DES HERRN fragte die Direktorin der Katholischen Akademie Berlin, Dr. Susanna Schmidt, nach dem Anliegen der Reihe:

Frage: "Mystische Erfahrungen heute" heißt der Untertitel Ihrer Veranstaltungsreihe. Warum haben Sie ein solches Thema gewählt?

Schmidt: Heute gibt es eine große Sehnsucht nach der Erfahrung des ganz Anderen, nach Einzigartigkeit und Einheit. Das Ziel dieser Sehnsucht ist ähnlich dem, was Mystikerinnen und Mystiker aller Religionen und Jahrhunderte zu artikulieren versucht haben. Ob in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, in der Frage nach Raum und Zeit oder in der erotischen Liebe, um nur einige signifikante Beispiele zu nennen -es gibt ein Streben nach einer inneren Sicht der Dinge. Meine Kollegen aus den Akademien Dresden, Erfurt, Magdeburg und ich, wir wollen mit unseren Veranstaltungen diesen Zusammenhang deutlich machen: zwischen unseren Erfahrungen, die die Grenzen der "Wirklichkeit" überschreiten, und den Erfahrungen besonders der christlichen Mystikerinnen und Mystiker.

Frage: Einiges spricht dafür, dass es für geistlich-spirituelle Themen wie die Mystik ein vergleichsweise großes Interesse gibt. Welche Erklärung haben Sie dafür?

Schmidt: Lange Zeit war es befreiend, zu den jeweiligen Systemen eine Außensicht einzunehmen, nach ihren Ideologien, Funktionalisierungen und Strukturen zu fragen. Heute spüren wir aber, dass dieser Zugang zur Wirklichkeit alleine nicht ausreicht. Neben der Wirklichkeit, die wir verändern können, gibt es auch eine Wirklichkeit, die uns geschenkt ist. Um die Entdeckung dieser Wirklichkeit und der Verneigung vor ihrem Geheimnis geht es.

Frage: "Mit den Heiden leben" heißt ein Schwerpuntktthema Ihrer Akademie. Ist Mystik -oder allgemeiner -christliche Spiritualität ein Thema, über das man mit den "Heiden" ins Gespräch kommen kann?

Schmidt: Nehmen wir zum Beispiel das Thema Glück, das für jeden religiösen Menschen heute genauso wichtig ist wie für jeden nicht-religiösen. Das Glück ist wie viele andere schöne Dinge des Lebens nicht herstellbar. "Denn alle rennen nach dem Glück / Das Glück rennt hinterher," hat schon Bertolt Brecht geschrieben. Teresa von Avilas Bild vom zu bewässernden Garten passt hierher: Der Mensch kann gießen, kann das Land bewässern, am besten ist es aber, wenn es regnet. Das stimmt für das Glück ebenso wie für die mystische Erfahrung, von der Teresa sprach. Exerzitien, was ja übersetzt "Übungen" heißt, können für jeden Menschen weiterführend sein. Ob wir damit das Geschenk des Glücks oder das Geschenk der Gnade erwarten, macht den Unterschied.

Frage: Wie würden Sie diesen Unterschied beschreiben?

Schmidt: Das Glück schließt das Unglück aus, und damit unterscheidet es gnadenlos zwischen Gewinnern und Verlierern. Die Gnade hingegen nimmt auch das Unglück, die "Karriere nach unten", das Scheitern und die Tränen in das Geschenk mit hinein und verwandelt sie.

Frage: Welche Erfahrungen haben Sie beim "Leben mit den Heiden" gemacht? Ist Kirche, ist katholische Akademie für die "Heiden" überhaupt ein Gesprächspartner?

Schmidt: Jeder Christ und jede Christin ist -wenn sie nur aufmerksam auf ihr Gegenüber eingehen -Gesprächspartner für die "Heiden". Wenn wir in der Katholischen Akademie in Berlin von "Heiden" sprechen, meinen wir das nicht abqualifizierend, zumal in fast jedem Christen ja ein "Heide" lebt. Und umgekehrt können Heiden christlicher sein als wir Christen. Dieses Wechselverhältnis ermöglicht es, dass wir den "Heiden" die Augen über sich, aber auch dass sie uns die Augen über uns Christen öffnen. Schon seit einigen Monaten veranstalten wir in der Akademie Gespräche, in denen sich Christen und Konfessionslose über ihre Erfahrungen von Glück und Werten, Freiheit und Humanismus, wenn Sie so wollen: über ihren "Glauben" austauschen. Meine feste Überzeugung ist es, dass jeder Mensch einen solchen -nicht unbedingt religiösen -Glauben als Grundlage für sein Leben besitzt. Auf der Basis dieser Grundannahme können wir miteinander sprechen. Und dabei ist es meine Erfahrung, dass wir als Christen das umso besser tun, wenn wir zugleich toleranter und selbstbewusster werden.

Fragen: Matthias Holluba

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 6 des 54. Jahrgangs (im Jahr 2004).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 05.02.2004

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