Die Welt als Wollknäuel in der Hosentasche
Hans-Peter Dürr sprach in Dresden über Naturwissenschaft und Mystik
Dresden -Was, wenn nicht rationales Erkennen, sollte das wichtigste Bestreben eines Wissenschaftlers sein? Eines Kernphysikers wie Professor Hans- Peter Dürr beispielsweise, jahrelang Direktor des Max-Planck- Institutes für Physik in München. Sollte man meinen. Statt dessen aber spricht er in seinem Vortrag im Kathedralforum in Dresden zu Naturwissenschaft und Mystik über die Begrenztheit menschlichen Denkens. Genauer: der gewohnten Art des Denkens. "Rationalität", sagt er, "ist kein gutes Organ, die Welt zu verstehen, nur zu begreifen." Das Verb habe etwas mit "greifen" zu tun, wie auch das Substantiv "Begriff". Ein Denken und eine daraus entwickelte Sprache also, die der menschlichen Praxis, dem Überleben gedient habe: "Greifen und nach Hause tragen." Deshalb nennt er sie auch "Apfel-Pflück-Sprache".
Ein Weltmodell für die Hosentasche
Es ist nicht das einzige Bild, das einzige Gleichnis, das Dürr an diesem Abend verwendet. Er vermag nicht nur in hochkomplexen Strukturen zu denken, sondern hat auch die Gabe, etwas von den Erkenntnissen der modernen Kernphysik auf sehr anschauliche und sehr lebendige Weise zu vermitteln. Ein Weltmodell trägt er stets in der Hosentasche: ein Wollknäuel. Er zieht das eine Ende des Fadens heraus, blickt an ihm entlang. Der herkömmliche Wissenschaftler, erzählt er, betrachte den Faden und schließe von ihm auf das Wesen des Knäuels. "Warum aber", fragt er, wirft das Knäuel hoch, fängt es wieder auf, "geht es nicht auseinander?" Das also, was es im Innersten zusammenhält, könne jener Wissenschaftler damit nicht erklären. Das nämlich seien diese winzigen Fusseln, aus denen auch der Faden bestehe.
Jener Wissenschaftler ist für ihn Vertreter eines längst überholten mechanistisch-atomistischen Weltbildes. Dessen Grundzüge: Alles besteht aus getrennten Teilen, die kleinsten davon sind die Atome. Der Beobachter schaut von außen auf das Ganze. Doch inzwischen haben die Physiker entdeckt, dass auch das Atom weiter zerlegbar ist, seine Bestandteile verhalten sich jedoch nicht mehr wie die vertrauten Partikel, sondern manchmal wie Wellen. Damit war auch ein neues, quantenmechanisch- ganzheitliches Weltbild geboren. Nicht mehr aus greifbarer Materie ist demnach die Welt zusammengesetzt, sondern aus etwas Immateriellem, was eher Geistigem ähnelt, ganzheitlich, offen, lebendig ist: "Potenzialität, die Kann-Möglichkeit einer Realisierung". "Materie",sagt Dürr, "ist nur die Schlacke des Geistes." Nicht mehr Teile also, sondern Verbundenheit, "das Eine, Ungetrennte".
"Ein Blick, der mehr die Zusammenhänge sieht"
Diesem könne man sich auf zwei Wegen nähern: Einmal auf dem "Außenweg", durch wissenschaftliche Untersuchung. Zum anderen auf dem "Innenweg". Dabei entwickle der in sein Inneres hinabsteigende Betrachter mehr Empathie (Einfühlung). Er begreift sich selbst als Teil des Ganzen. "Das Ich wird immer größer, schließlich schließt es das ganze Universum ein." Von seinen Erfahrungen könne dieser Betrachter jedoch nicht in Begriffen, nur in ungefähren Bildern sprechen. Es sei der Weg der Religionen, der Mystik. "Ein Blick, der mehr die Zusammenhänge sieht." Angesichts dieses neuen ganzheitlichen Weltbildes betrachtet Hans-Peter Dürr Religion, insbesondere Meditation, Mystik auf der einen und die Wissenschaft auf der anderen Seite nicht mehr, wie noch die Aufklärung, als einander ausschließende Gegensätze, sondern als zwei komplementäre, also einander ergänzende Erfahrungsweisen des modernen Menschen.
Tomas Gärtner
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 18.03.2004