"...ohne Fremdeinwirkung?"
Gedanken nicht nur für die Fastenzeit
In einem Faschingslied heißt es "Am Aschermittwoch ist alles vorbei ...". Wenn ich über Aschermittwoch, die Fastenzeit und über das kommende Osterfest nachdenke, bewegt mich folgende Geschichte:
Wir schreiben das Jahr 1964. Nicht weit von Magdeburg wird in einer Familie ein kleiner Junge geboren. Einer Nachbarin fällt auf, dass das Kind häufig vom Vater geschlagen, ja sogar misshandelt wird. Die Nachbarin wendet sich an eine Caritas- Fürsorgerin, die in dieser Familie einen Hausbesuch macht, um sich von der Situation des Kindes zu überzeugen. Schon nach den ersten Kontakten stellt die Fürsorgerin fest, dass das Kind nicht normal entwickelt ist, kein eigenes Bettchen hat, sondern auf einer Holzpritsche unter einem Geschwisterbett untergebracht ist. Durch das schnelle Handeln, gemeinsam mit der Jugendhilfe, wird der kleine Dietmar in ein Säuglingsheim gebracht. So beginnt seinen "Heimkarriere".
Ein Kontakt zu den Eltern lässt sich nicht herstellen. Dietmars Weg ist in gewisser Hinsicht vorprogrammiert. Nach der Zeit im Säuglingsheim muss er in eine andere Kindereinrichtung. Ärztliche Untersuchungen ergeben, dass der Junge einen frühkindlichen Hinrschaden hat. In der Schule bringt er schlechte Zensuren. Er kann sich nur schwer konzentrieren. Im Rahmen eines Vorpraktikums zur Sozialarbeiterausbildung lerne ich Dietmar im Jahr 1973 kennen.
In dieser Zeit soll Dietmar getauft werden. Die Heimleitung und die Pädagoginnen der Einrichtung sind der Meinung, dass ein Mann das Amt des Taufpaten übernehmen sollte. Da ich in meiner Praktikumszeit eine Beziehung zu Dietmar aufbauen konnte und in dieser Einrichtung der einzige Mann war, habe ich dieses Amt nicht leichten Herzens übernommen. Auch jetzt lässt sich der Kontakt zu den Eltern nicht wieder aufbauen. Für jedes Kind ist jedoch ein familiärer Kontakt sehr wichtig. So kommt Dietmar regelmäßig in unsere Familie.
Glücklicherweise findet sich Ende der 70er Jahre eine Pflegefamilie in Leipzig, die Dietmar aufnimmt. Der Pflegevater vermittelt Dietmar eine Teilausbildung als Tierpfleger. Es sieht so aus, als würde es für Dietmar gut weitergehen. Leider fühlt sich die Pflegefamilie, als Dietmar erwachsen ist, überfordert und bricht den Kontakt zu dem Jungen schrittweise ab. Dietmar bleibt in Leipzig wohnen und sucht wieder verstärkt den Kontakt zu unserer Familie.
In den letzten Jahren kommt er regelmäßig zu allen Feiertagen und zu Festveranstaltungen, die die Caritas auf ihrem Öko- Hof Gut Glüsig bei Haldensleben feiert. Bei diesen Hoffesten ist Dietmar ein gefragter Pferdeführer. Mit großer Begeisterung und großem Einsatz sorgt er dafür, dass Kleinkinder "das Glück der Erde auf dem Rücken der Pferde" erfahren können. Auch Dietmar ist überglücklich. Auf dem Biohof ist er ein gefragter Mann, der Anerkennung bekommt.
Kurz vor den Weihnachtsfeiertagen sagt Dietmar einen Besuch in unserer Familie zu unserem Bedauern ab. Vor einigen Tagen bekomme ich völlig überraschend die traurige Nachricht, dass Dietmar seinem Leben ein Ende gemacht hat. Im Polizeibericht heißt es lapidar: "... ohne Fremdeinwirkung".
Die Fremdeinwirkung auf den kleinen Dietmar ist schon vor vielen Jahren erfolgt. Mängel, die Kleinkinder in ihrer frühen Lebenszeit erfahren mussten, sind wohl kaum oder nur sehr schwer auszugleichen. Mir zeigt dieser Lebensweg, wie wichtig es ist, dass wir achtsam und aufmerksam miteinander umgehen. Die Zeit vor Ostern kann sicherlich für alle dazu dienen, in besonderer Weise auch über die Beziehung zu unserem Nächsten nachzudenken. Ein kurzes Wort, das man sich gut merken kann, lautet: "Wenn du aufhörst vor Liebe zu glühen, werden andere vor Kälte sterben". Ich wünsche Ihnen ein offenes Herz für Ihre Mitmenschen.
Hans Könnecke, Caritas für das Dekanat Magdeburg
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 01.04.2004