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Auf zwei Minuten

"Stückwerk ist unser Erkennen"

Ein Beitrag von Pater Damian Meyer

Pater Damian

Ein Schüler sagte zum Meister, er habe trotz des intensiven Studiums der heiligen Schriften den Eindruck, immer nur einen Zipfel der Wahrheit zu erhaschen. Und er bat den Meister, ihm zu sagen, wie es ihm gelingen könne, die ganze unverfälschte, einzig wahre Wahrheit zu erkennen. Der Meister nahm Laub vom Boden auf und hielt die Blätter seinem Schüler hin. "Was siehst du?", fragte er ihn. "Blätter von verschiedenen Bäumen", antwortete der Schüler. "Ähnlich ist es mit der Wahrheit", sagte der Meister. "Die Blätter sind nicht der ganze Baum. Ein Baum ist nicht der ganze Wald. So sind auch die Wahrheiten, die wir denken und nennen können, niemals die ganze Wahrheit. Ebenso wie wir nicht imstande sind, die Blätter eines einzigen Baumes oder gar alle Bäume eines Waldes mit einer Hand zu greifen, so sind wir nicht befähigt, die ganze Wahrheit zu erfassen" (nach Norbert Lechleitner).

Uns steht heute eine ungeheure Menge von Informationen und Wissen auf allen Gebieten zur Verfügung. Schulen, Buchhandlungen und Bibliotheken, das Internet bieten einen Zugriff auf diese Daten. Erst die Spezialisierung der Forschung auf immer mehr begrenzte Gebiete macht den Reichtum des Wissens möglich. Niemand kann bei der explosionsartigen Vermehrung des Wissens auf allen Gebieten auch nur einigermaßen Bescheid wissen. Wir sind alle angewiesen auf die "Experten". Immer mehr interdisziplinäre Forschungsprojekte werden notwendig, um praktische Lösungen zu finden. Auch im täglichen Leben müssen wir uns im Umgang mit allerlei Geräten und Apparaten auf Fachleute verlassen, sobald größere Probleme auftreten.

Wie steht es in unserem Alltag mit unseren ethischen Entscheidungen? Wir kennen allgemeine Weisungen, Gebote und Verbote, wir haben die Absicht, das Gute und Richtige zu tun. In einer konkreten Lebenssituation können wir aber nicht alle möglichen Umstände und eventuellen Folgen unseres Handeln bedenken, sonst kämen wir nie zu einer Entscheidung. Und wir können uns auch nicht einfach auf die Einsicht von Moraltheologen berufen, denn es bleibt unsere persönliche Entscheidung. Da wir die ganze Wahrheit über uns selbst, über die jeweilige Lage der Dinge, über den Willen Gottes in einer gegebenen Situation nicht voll erfassen können, müssen wir uns mit unserem Erkennen als "Stückwerk" (vgl. 1 Kor 13,) zufrieden geben und den "Mut zur Lücke" haben. Im Glauben erfassen wir nicht die ganze Wahrheit über uns selbst und über Gott; dennoch gilt das tröstliche Wort von Thomas von Aquin: "Das Geringste an Erkenntnis, das einer über die erhabensten Dinge zu gewinnen vermag, ist ersehnenswerter als das gewisseste Wissen von den niedrigen Dingen."

Pater Damian Meyer

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 17 des 54. Jahrgangs (im Jahr 2004).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 22.04.2004

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