Wenn das Leben mit dem Tod beginnt
Umgang mit zu früh oder tot geborenen Kindern
Magdeburg -"Ich komme ins Schwitzen, wenn ich gefragt werde, wie viele Kinder ich habe", sagt Silke Herrfurth. Die gelernte Kinderkrankenschwester und evangelische Theologin ist Mutter zweier Töchter und hat ein weiteres Kind zu früh und nur tot zur Welt bringen können -eine schmerzvolle Erfahrung, die sie mit vielen Frauen teilt. Um solche Erfahrungen und darum, wie Frauen und ihre Familien sie menschenwürdig bewältigen können, ging es bei einer Veranstaltung anlässlich der Woche für das Leben in Magdeburg. Zeitweise hätte man die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören können, etwa, als eine ältere Teilnehmerin den Tränen nahe erzählte, wie vor Jahren ihr tot geborenes Kind zu Forschungszwecken der Pathologie übergeben wurde. Oder als eine Hebamme von ihren Erfahrungen mit einem zu einer Geburt gerufenen Notarzt berichtete, durch dessen Entscheidung eine lang andauernde, aber erfolglose Wiederbelebung des toten Kindes versucht wurde.
30 Teilnehmer -die meisten Frauen und aus sozialen und me-dizinischen Berufen -waren zu der Diskussion "Wenn das Leben mit dem Tod beginnt. Eltern trauern um ihre Kinder" ins Roncallihaus gekommen. Zu diesem ersten "Forum Leben" hatte die im Bistum Magdeburg ansässige Stiftung Netzwerk Leben in Zusammenarbeit mit der Katholischen Akademie eingeladen.
"Es ist hilfreich, den Frauen nach der Entbindung Zeit zu lassen für ihre Fragen und ihren Schmerz", sagte Krankenhaus-Seelsorgerin Barbara Haas von der Magdeburger Universitätsklinik. Sie berichtete, wie wichtig es für eine Mutter sein kann, ihr tot geborenes Kind zu sehen, in den Arm zu nehmen, ihm einen Namen zu geben, auch ein Erinnerungsfoto zu machen, es zu waschen und anzuziehen, ja vielleicht sogar mit nach Hause zu nehmen (bis zu 36 Stunden ist das gesetzlich möglich). Es sei gut, die Frauen zum Kontakt mit dem toten Kind zu ermutigen, aber nicht zu drängen. Die Klinikseelsorgerin kam auch auf die große Bedeutung einer Bestattung dieser Kinder zu sprechen, wie sie zweimal im Jahr auf dem Magdeburger Westfriedhof stattfindet. "Für die Eltern ist es sehr wichtig, einen Ort für ihre Trauer zu haben. Es geht darum, den Müttern und Vätern einen Abschied von ihrem Kind zu ermöglichen, damit Abschied geschehen und Hoffnung wachsen kann."
Silke Herrfurth, die nach der Totgeburt ihres Kindes mit Hilfe der Initiative Regenbogen "Glücklose Schwangerschaft" eine Selbsthilfegruppe gründete, bestätigte dies: "Zunächst wollte ich das nicht wahrhaben und habe das Erlebte verdrängt. Auch im Verwandten- und Bekanntenkreis wurde so getan, als ob es nicht stattgefunden hat." Weil sie aber gespürt habe, dass sie den Tod ihres Kindes so nicht bewältigen könnte, und zudem erlebte, dass sie eher ihre Familie trösten musste als umgekehrt, suchte sie Hilfe und fand sie im Gespräch mit Frauen mit ähnlichen Erfahrungen. Heute steht für sie fest: "Gesellschaft und Kirche sind gefordert, Eltern in entsprechender Situation die Möglichkeit zur Trauer und entsprechende Rituale zu bieten, um mit dem Tod ihres Kindes menschlich umgehen zu können." Und: "Es müsste in Arztpraxen, Krankenhäusern, Beratungsstellen darauf hingewiesen werden, wo Betroffenen Beistand finden."
Die "Entsorgung" von toten Frühgeburten als "Sondermüll" muss der Vergangenheit angehören, verlangte der Hallenser Gynäkologe Sven Seeger. "Aufgabe jeder medizinischen Einrichtung, in der Frauen wegen einer Fehlgeburt betreut werden, ist es, einen würdigen Umgang mit der Leibesfrucht zu gewährleisten -ein Anspruch, dem sich die konfessionellen Kliniken stellen. Alle entsprechenden Einrichtungen sollten ein Grabfeld eines örtlichen Friedhofs erwerben, in dem die Leibesfrucht als Sammelbestattung bei einer Trauerfeier beigesetzt wird", so Seeger, der als Chefarzt den Bereich Geburtshilfe am Krankenhaus St. Elisabeth und St. Barbara in Halle leitet. Derartige Bestattungen müssten spätestens aller drei Monate stattfinden. "Die Eltern sollten gefragt werden, ob sie zu der Beerdigung eingeladen werden wollen."
Entsprechende gesetzliche Regelungen gibt es, so Seeger. Laut Personenstandsgesetz liegt das Geburtsgewicht der von den Standesämtern zwingend zu beurkundenden Kinder bei 500 Gramm. Aber auch bei einer Fehlgeburt können Eltern eine Beurkundung beantragen. Die Bestattungsvorschriften hingegen sind in den Ländergesetzen geregelt. So ist etwa in Sachsen-Anhalt eine Bestattung für alle tot Geborenen ab 500 Gramm Geburtsgewicht vorgeschrieben, aber auch kleinere Föten können beerdigt werden. Allerdings sehen viele Friedhofsordnungen noch keine Bestattungen von zu früh Geborenen auf Kindergräbern vor.
Nach Ansicht des Erfurter Theologen und Ethikers Josef Römelt werden Abort und Totgeburt heute stärker als früher Tod erlebt. "Die Ultraschalluntersuchung schafft eine intensivere Beziehung zum Kind im Mutterleib", sagte Römelt. Aus Sicht der theologischen Ethik sei "auch das kürzeste Leben wertvoll und zu respektieren". Für die schlimme Erfahrung einer Fehl- oder Totgeburt seien die Menschen sensibel geworden. Eine Haltung, wie sie im Gegensatz dazu bei der großen Zahl der Abtreibungen leider nicht festzustellen sei. Römelt beklagte, dass Frauen nicht selten aufgrund vorgeburtlicher Diagnosen zur Abtreibung gedrängt würden. Leider gebe es für diese Situa-tion keine vorgeschriebene Konfliktberatung. Eckhard Pohl
Hilfe: Caritas- udn Diakonie-Beratungsstellen; Bundesverband Verwaiste Eltern in Deutschland e.V., Tel. 0 41 31 / 6 80 32 32, Internet: www.veid.de ; Initiative Regenbogen "Glücklose Schwangerschaft", Tel. 0 52 41 / 2 77 09, www.initiative-regen-bogen.de; Die Vorträge von Seeger und Römelt unter www. treffpunkt-ethik.de. Die Deutsche Bischofskonferenz hat eine Arbeitshilfe (Nr. 174) "Wenn das Leben mit dem Tod beginnt ..." veröffentlicht.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Dienstag, 11.05.2004