Nicht nur meckern, sondern mitmischen
Professor Hans Joachim Meyer warnt Christen vor einem Rückzug ins Private
Leipzig (dw) - "Wird Religion zur Privatsache?" Auf diese Frage Leipziger Studenten antwortete der Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Professor Hans Joachim Meyer, während des Patronatsfestes der Leipziger Katholischen Studentengemeinde Thomas Morus. Es gebe starke Tendenzen, die darauf hindeuten, dass Religion in unserer Gesellschaft zunehmend als Privatsache betrachtet wird, befand Meyer, der bis 2002 sächsischer Wissenschaftsminister war. Welche Bedeutung eine Religion im öffentlichen Leben habe, entschieden jedoch in erster Linie diejenigen, die mit dieser Religion lebten. Als Faktoren, die den Privatheitscharakter der Religion befördern, nannte Hans Joachim Meyer den wachsenden Individualismus in westeuropäischen Staaten, einen Trend zur Bindungslosigkeit, die verbreitete Vorstellung, alle Lebensrisiken absichern zu können und eine falsch verstandene Toleranz, abgekoppelt von eigener Wahrheitssuche und eigener Positionsbestimmung.
Neben denjenigen, die mit kirchenfeindlicher Absicht den Rückzug der Religion ins Private forderten und die den Begriff der Religionsfreiheit nicht als Freiheit für Religion sondern als Freiheit von Religion interpretierten, gebe es auch innerhalb der Kirche sehr unterschiedlich motivierte Positionen, die in die gleiche Richtung zielten, sagte Meyer und erläuterte, wie sich einige dieser Haltungen historisch entwickelt haben.
Beispielsweise habe sich der Vatikan erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ausdrücklich zur Religionsfreiheit bekannt. Vorausgegangene Päpste hätten entsprechende Forderungen zum Teil sogar als "Wahnsinn" abgelehnt, weil sie nur die Sonderstellung des Christentums gegenüber den anderen Religionen im Blick hatten und ihnen die negativen Folgen der Freiheitsbeschränkungen für das Christentum selbst nicht genügend bewusst waren. Mit diesem freiheitsfeindlichen Kurs hätten die Päpste insbesondere das französische Konzept der Laizität befördert, einer aus der französischen Revolution begründeten sehr strikten Trennung von Staat und Kirche, deren Problematik nach Meyers Ansicht viel zu wenig im Bewusstsein der Christen sei. Die ursprüngliche Fassung des EU-Verfassungsentwurfs, die unter Federführung des Franzosen Valéry Giscard d´ Estaing erstellt wurde, sei von dem Konzept der Laizität deutlich geprägt. So seien in der ersten Fassung nur die antiken Wurzeln und die freiheitlich-liberalen der Aufklärung als Grundlage der europäischen Kultur erwähnt worden, nicht aber die christlich-jüdischen. Ein Gottesbezug fehle in der Präambel der ersten wie auch der aktuellen Fassung. Beides hält Hans Joachim Meyer für bedauerlich. Er erinnerte an die Diskussion über den Neuentwurf der niedersächsischen Verfassung Anfang der 90er Jahre. Nach vielen Protesten war damals die ursprüngliche Fassung, die keinen Gottesbezug enthielt, geändert worden. Das führte er zu einem großen Teil auf die geschichtliche Erfahrung der Deutschen zurück, die sensibel seien für die Gefahr, dass sich Menschen ein weiteres Mal an die Stelle Gottes setzen könnten. Dass Religion in einer modernen Gesellschaft nicht zwangsläufig bedeutungslos sein müsse, zeigt Meyer zufolge das Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika. Seit der Gründung lege man auch hier Wert auf eine konsequente Trennung von Staat und Kirche, jedoch in ganz anderer Ausprägung als in Frankreich. Motivation für die Trennung ist in den USA die Erinnerung an religiöse Kriege. Verstanden wird sie als Vorbedingung für die Religionsfreiheit, im Gegensatz zu Frankreich jedoch als Freiheit für die Religion. Für das Leben und Denken der Nordamerikaner sei viel wichtiger als der Staat die Gesellschaft. Es gebe zwar eine Trennung von Staat und Kirche, keine Trennung dagegen von Gesellschaft und Kirche. Zwar sei auch in den USA der Individualismus stark verbreitet, gleichzeitig gebe es aber eine traditionell hohe Bereitschaft, gemeinschaftliche Verpflichtungen gegenüber Gesellschaft, Land, Kirche und Familie zu übernehmen. Die Christen in Deutschland und Europa sollten sich stärker in die öffentliche Wertediskussion einbringen, forderte Meyer. Zu häufig seien sie abwesend im Streit und meckerten anschließend über ihre mangelnde Berücksichtigung. Im Blick auf die EU-Verfassung warnte er gleichzeitig vor zu hohen Erwartungen. Man sollte sich nicht zu stark auf die gewünschten Verfassungsänderungen fixieren, sondern auch die bereits vorhandenen Spielräume nutzen.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 24.06.2004