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Auf zwei Minuten

Gesichter in der Straßenbahn

Ein Beitrag von Pater Damian Meyer

Pater Damian

Während einer Fahrt mit der Straßenbahn beobachte ich gern die Gesichter der Fahrgäste. Da gibt es offene und verschlossene, entspannte und verkrampfte, fröhliche und traurige, verbitterte und unbekümmerte, aufmerksame und lustlose Gesichter. Wie verschieden die Menschen aussehen nach Körperwuchs, Kleidung und Haartracht, und wie sie sich unterschiedlich benehmen! Und das Erstaunliche ist immer wieder: Jeder Mensch ist einmalig. Es gibt keine Kopien. Da lasse ich meiner Fantasie freien Lauf und versuche, mich hineinzudenken und hineinzufühlen in ihre Lebenssituation. Ich stelle mir vor, in welchen Familienverhältnissen sie leben, wie sie wohnen, ob sie Arbeit haben und welche, was sie bekümmert, was sie froh macht, was sie gerade erlebt haben, wohin sie gerade unterwegs sind ...

Ist das ungezügelte Neugier und ungehöriges Interesse an fremden Zeitgenossen? Für mich nicht. So überraschend es klingen mag: Mir helfen diese Beobachtungen zum Gebet. Ich komme mit Gott ins Gespräch über meine Mitmenschen. In allen Menschen spiegelt sich das Bild Gottes, ist der Mensch doch als sein Abbild erschaffen. Die erstaunliche Vielfalt der Gesichter, die unverwechselbare Individualität jedes Menschen verweisen auf die unendliche Seinsfülle des Schöpfers. Und Gott liebt die Menschen. Das bringt mich zum Staunen und zur Dankbarkeit. Gleichzeitig bitte ich Gott - vor allem, wenn ich Leid erfüllte und verhärmte und verhärtete Gesichter sehe -, diese Menschen auf irgendeine Weise erfahren zu lassen, dass sie geliebt sind, dass sie nicht allein gelassen sind.

Mir gelingt es nicht oft, von mir selbst wegzusehen, weg von meinen eigenen Problemen und Träumen mich offenen Blicks und Herzens den Mitmenschen zuzuwenden. Für mich ist die Fahrt mit der Straßenbahn aber eine gute Gelegenheit, mich in diese Zuwendung einzuüben.

In einem Gebet beschreibt Anette Feigs, wie wir Gott finden in den Menschen um uns: "Herr, wenn du dich / eingeschrieben hast in unser Innerstes, / finden wir dich überall / in dieser lauten und bunten Welt, / in den abgehärmten Gesichtern der Not Leidenden, / in den verlangenden Händen der Armen, / in den fragenden Blicken der Sinn-Suchenden, / in den leeren Händen der Erstarrten, / im leisen Schluchzen der Traurigen, / im dumpfen Verharren der Versteinerten, / im strahlenden Lächeln der Fröhlichen, / im behutsamen Verstehen der Liebenden. / Du zeigst dich uns / als Anfrage, / als Anspruch, / als Antwort, / als Wegbegleiter zum Ziel."

Pater Damian Meyer

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 28 des 54. Jahrgangs (im Jahr 2004).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 08.07.2004

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