Die guten Sitten
Ein Beitrag von Pater Damian Meyer
Ich bin immer wieder überrascht und dankbar, wie freundlich und zuvorkommend viele Zeitgenossen sind, wenn man sie um eine Gefälligkeit bittet oder wie sie Rücksicht auf andere nehmen. Aber wir alle kennen auch die Klagelitanei über den Zerfall der guten Sitten und die Verrohung der Umgangsformen, über die Zunahme von Gewalttätigkeit zwischen Schulkindern und Jugendlichen, von Vandalismus verschiedener Formen ... Und viele von uns haben selbst oft mit rücksichtslosen Menschen schlechte Erfahrungen gemacht, wurden weggedrängt, angerempelt, mit unhöflichen Worten traktiert. Manche Zeitgenossen machen den Eindruck, sie tun keinen Blick nach rechts und links, übersehen ihre Mitmenschen, weil sie nur sich und ihre Pläne im Auge haben.
Vor knapp zwanzig Jahren hat E.W. Heine in seinem Buch ,,Der neue Nomade. Ketzerische Prognosen" mit viel Ironie und Sarkasmus den Verfall unserer Kultur dargestellt. Seine These: In den verschiedenen Bereichen unserer (westlichen) Zivilisation und Kultur erleben wir eine (Rück-)Entwicklung zur Primitivität. Man mag vieles in seinem Buch als einseitig und übertrieben werten und seinen Schlussfolgerungen widersprechen. Für mich aber ist die folgende Aussage von ihm der Schlüssel zum Verständnis unserer Situation: "Kultur ist die Summe guter Sitten. Gute Sitten bestehen aus vielen kleinen Opfern. Wenn keiner mehr bereit ist, Opfer zu bringen, sterben die guten Sitten und die Kultur."
Im Gegensatz zum Tier, kann der Mensch sich nicht auf seine Instinkte verlassen, sondern muss in einem langen Erziehungsprozess sein Verhalten in der Welt lernen. Das Wort "Opfer" könnte missverstanden werden: Was bedeutet es? Sich nicht selbst egoistisch zum Mittelpunkt zu machen, von sich selbst absehen zu können und auch umsichtig das Wohlergehen anderer im Blick zu haben. Das bedeutet oft ein Zurücktreten, Platz machen, Teilen, dem anderen eine Chance geben; gegen die eigene Unlust und das Desinteresse, gegen die eigene Bequemlichkeit auf den Mitmenschen zugehen. Das heißt auch: Ich kann mich nicht egoistisch selbst verwirklichen auf Kosten meiner Mitmenschen, da ich dann auf einer unreifen, primitiven Stufe meiner Entwicklung stehen bleiben würde. Man sieht: Letztlich ist hier das biblische Liebesgebot angesprochen: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst". Es ist aktueller denn je.
Pater Damian Meyer
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Mittwoch, 25.08.2004