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Christlicher Glaube neu gefragt?!

Sozialwissenschaftler warnt Kirche vor Flurbereinigung

Magdeburg -Eine Zunahme religiöser Themen in den Medien hat der Münsteraner Sozialwissenschaftler Karl Gabriel ausgemacht. "Im wiedervereinigten und religiös-kulturell verstärkt pluralisierten Deutschland sind im letzten Jahrzehnt Konfliktmaterien -vom Kreuz in den öffentlichen Schulen über das obligatorische Schulfach Lebenskunde -Ethik -Religion (LER) bis zum Kopftuch der muslimischen Lehrerin und Verkäuferin -neu aufgebrochen, die zu einer verstärkten Präsenz der Religion in den öffentlichen Medien geführt haben", sagte Gabriel vor 90 Teilnehmern der Herbsttagung der katholischen Hochschulseelsorger Deutschlands in Magdeburg. Zumindest gebe es eine neue Kommunikation über Religion. Zudem seien etwa mit Johannes Paul II. häufig religiöse Akteure in den Medien präsent. "Ähnliche Tendenzen zu einem Sichtbarwerden bislang erfolgreich als unsichtbar und privat definierter religiöser Themen und Konflikte lassen sich für viele Länder Europas beobachten."

Eine vergleichbare Entwicklung zeige sich im politischen Meinungsbildungsprozess, wenn es etwa um Fragen der Bioethik, der Friedens- oder der Sozialpolitik gehe und die Kirchen durchaus nach ihrer Position gefragt seien, so der Inhaber des Lehrstuhls für christliche Sozialwissenschaft an der Universität Münster. Hier sei eine zunehmende Entprivatisierung des Religiösen feststellbar. Dies sei insofern bemerkenswert, als diese Tendenz zeitgleich mit der weiter fortschreitenden Entkirchlichung und Privatisierung der Gesellschaft einhergehe.

Entprivatisierung des Religiösen

Der Soziologe und Theologe zieht daraus den Schluss, die fortschreitende Säkularisierung des Glaubens lasse sich "nur durch eine entschiedene Hinwendung zu einer öffentlichen Präsenz des Glaubens überwinden", für die es durchaus Chancen gebe.

"Individualisierte Religiosität - (k)eine Chance für die Kirchen?! Thesen zur Sozialgestalt von Religion heute" war das Referat von Gabriel überschrieben. In einer stark individualisierten, aber auch von Verunsicherung gezeichneten Gesellschaft sollte sich die Kirche um Angebote religiöser Kommunikation, Begegnung, Gemeinschaft und Solidarität mühen und so ihre Chancen wahrnehmen, empfiehlt der Sozialwissenschaftler. Viele Menschen seien heute im Blick auf die vor Jahren verbreitete Wissenschaftsgläubigkeit enttäuscht. "Der Glaube, man könne Natur, Gesellschaft und die innere Natur des Menschen beherrschen, verliert an Bedeutung", so Gabriel. Angesichts der daraus erwachsenden Verunsicherung sollten Christen das Gespräch über Diesseitiges im Kontext der christlichen Hoffnung anbieten. Zudem müsste die Kirche "für die unbedingte Würde des Menschen und den unbedingten Wert des Lebens besonders dort eintreten, wo sie gefährdet und der Unterdrückung ausgesetzt sind".

Angesichts der Sparzwänge in den Kirchen warnte Gabriel davor, sich durch Selbstbeschneidung in bereits von der Gesellschaft vorgegebene Segmente einzupassen.

"Kerngeschäftsideologie" gefährdet die Kirche

Gerade Vielfalt und umfassende netzwerkartige Strukturen der Kirche über die Grenzen gesellschaftlicher Gruppen hinweg seien ihr große Chance. "Die Stärke der Kirche liegt gerade darin, in einer Welt immer schärferer Spezialisierungen und Segmentierungen ,ganzheitliche' Lösungen von Problemen zu ermöglichen." Eine "Kerngeschäftsideologie", wie Gabriel offenbar in Anspielung auf Empfehlungen von Beraterfirmen für die Diözesen scharf formulierte, "gefährdet die Kirche", denn "sie lebt von Pluralität". "Das Sparen darf nicht zur Flurbereinigung führen", so Gabriel. Der Sozialwissenschaftler sprach sich für einen Konsultationsprozess in der deutschen Kirche aus, in dessen Rahmen über künftige Prioritäten des Wirkens gerungen werden und eine Art Rahmenkonzept für alle Diözesen erarbeitet werden sollte

Für die Kirche werde es künftig darauf ankommen, Formen verantwortlicher Teilnahme und Teilhabe zu entwickeln, betonte der Sozialwissenschaftler. "Soweit heute erkennbar, werden es Institutionen und gesellschaftliche Kräfte, denen es nicht gelingt, glaubwürdig Räume und Prozesse eigenverantwortlicher Mitgestaltung zu eröffnen und zu fördern, immer schwerer haben, noch Menschen anzusprechen und sie von ihren Anliegen zu überzeugen und zum Mittun zu motivieren."

Die Konferenz der Stundentenseelsorger stand unter dem Thema "Hochschulpastoral in säkularer Umgebung?" Dazu war neben Karl Gabriel auch die Leiterin der Arbeitsstelle Frauenseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz, Privatdozentin Hildegund Keul, eingeladen. Frau Keul ging in ihrem Referat zum Thema "Religion und Christentum in postsäkularer Kultur. Die Suche nach der zerbrochenen Intimität des Lebens" besonders auf die Bedeutung des Angebots von Ritualen ein. Darin "liege die Chance des Evangeliums in einer Kultur, die sich selbst säkular begreift, aber dennoch ein offenes Ohr für Fragen der Religion hat".

Eckhard Pohl

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 39 des 54. Jahrgangs (im Jahr 2004).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 26.09.2004

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