Das Wunder von Leipzig
Propst Hanisch erinnert sich an den 9. Oktober 1989
Leipzig / Dresden (mh) -Johannes Rau und Rita Süssmuth, Theo Waigel und Lothar Späth -viele West-Politiker haben sich im Herbst 1989 und im Frühjahr 1990 in Leipzig die Klinke in die Hand gegeben. Für fast jeden war Günter Hanisch ein Ansprechpartner. "Wer irgendetwas wollte, wandte sich an die Kirchen", erinnert sich Hanisch, damals katholischer Propst in Leipzig, heute im Ruhestand in Dresden. Übrigens galt das nicht nur für Politiker, sondern auch für Showgrößen wie Frank Elstner, dessen Sekretär Hanisch eines Nachts telefonisch aus dem Bett klingelte, weil Elstner in Leipzig eine Fernsehsendung machen wollte.
Die Kirchen waren damals für viele die einzigen vertrauenswürdigen Institutionen. Und so nahmen Kirchenvertreter in der Friedlichen Revolution Aufgaben wahr, die vordergründig keine Seelsorge sind. Hanischs evangelischer Kollege, der Leipziger Superintendent Johannes Richter, nannte das "politische Diakonie". "Unser Anliegen war es, zuerst ein Blutvergießen und später das Chaos zu verhindern und freie Wahlen zu ermöglichen", fasst Hanisch zusammen, wofür er sich engagierte.
Wie überall in der DDR hatte sich im Sommer 1989 die Lage in Leipzig zugespitzt. Besonders im Anschluss an die montäglichen Friedengebete in der evangelischen Nikolaikirche kam es zu Konfrontationen mit der Staatsmacht. Am 2. Oktober gab es nach dem Friedensgebet eine erste größere Demonstration. Am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, kam es zu Auseinandersetzungen und Verhaftungen. Was würde am kommenden Montag, dem 9. Oktober, passieren? Es hatte Drohungen mit militärischer Gewalt gegeben und die Stadt glich einem Heerlager. Hanisch: "Wir haben fest mit Schießereien gerechnet."
Am Vormittag versammelten sich die katholischen Geistlichen des Dekanates zu einer Sondersitzung. Gemeindemitglieder hatten kritisiert, die Kirche würde sich zu sehr zurückhalten. Jetzt wurde diskutiert, was zu tun sei. Schließlich wurde eine Erklärung verabschiedet, die auch der Dresdner Bischof Joachim Reinelt unterstützte. Da war die Rede von einer Krise der Gesellschaft, verursacht durch den Vertrauensschwund zwischen Regierung und Regierten. "Wir unterstützen alle gewaltfreien Bemühungen, die einen gesamtgesellschaftlichen Dialog fördern", hieß es.
Gegen 14 Uhr traf Hanisch sich mit den beiden Superintendenten. Die Drei hatten vereinbart, ihr Vorgehen abzustimmen. Nun wollte man zum Oberbürgermeister gehen und ihn bitten, dass es nicht zur Gewaltanwendung kommt. Dieser Besuch hatte sich allerdings durch ein Gespräch des evangelischen Landesbischofs Johannes Hempel beim Rat des Bezirkes inzwischen erübrigt. Doch es blieben erhebliche Zweifel, dass die Bitte Gehör fand. "Ich erinnere mich an eine Frau, die mich ängstlich ansprach. Ich sei doch von der Kirche. Ich solle unbedingt dafür sorgen, dass Frauen und Kinder die Stadt verlassen. Es würde Schreckliches passieren."
In vier protestantischen Kirchen begannen um 17 Uhr die Friedensgebete. Inzwischen hatte zwar ein Aufruf zum Gewaltverzicht von sechs Leipziger Prominenten, darunter zwei führenden SED-Mitgliedern, etwas Entspannung gebracht. Trotzdem stand die katholische Propsteikirche als Zufluchtsort zur Verfügung. Bei der anschließenden Demonstration sind die Geistlichen nicht mitgegangen. Sie hielten sich bereit, und wollten im Ernstfall bei Schießereien vermitteln. Das war nicht nötig, denn es geschah, was heute das "Wunder von Leipzig" genannt wird. Den Beteiligten war diese historische Bedeutung nicht bewusst: "Ich bin zwar erleichtert nach Hause gegangen, weil nichts passiert ist, und habe noch den Bischof angerufen. Aber die Gefahr war noch nicht vorbei", erinnert sich Hanisch. Und tatsächlich wollte Erich Honecker am folgenden Montag ein Panzerregiment durch Leipzig rollen lassen, so zumindest berichtete es sein Nachfolger Egon Krenz. Und die DDR-Regierung blieb mit ihrem ganzen Machtapperat noch bis zum 7. November im Amt.
Was folgte, ist heute schnell erzählt: Grenzöffnung am 9. November, Auflösung der Stasi am 4. Dezember, Beginn der Arbeit an den Runden Tischen Anfang Januar und schließlich die ersten freien Wahlen am 18. März. "Damit endete die Umbruchzeit", sagt Hanisch. Die Politik wurde wieder von Politikern gemacht. Und Propst Hanisch konnte wieder ganz Seelsorger sein, was nicht heißt, dass dabei politische Fragen keine Rolle spielen. Würde man ihn fragen, hätte er auch heute noch manchem Politiker etwas zu sagen. Angesichts der gegenwärtigen Montagsdemos und Hartz-IV-Proteste würde er Kanzler Gerhard Schröder eines besonders ans Herz legen: "Politik muss eine glaubwürdige Perspektive aufzeigen, und Politiker müssen den Mut haben, die Dinge so zu sagen, wie sie sind."
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Mittwoch, 06.10.2004