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Noch mal leben vor dem Tod

Eindrucksvolle Fotoausstellung über das Sterben im Dresdner Hygiene-Museum

Heiner Schmitz: Heiner Schmitz wurde 52 Jahre alt und litt sehr darunter, in seinem Freundeskreis mit niemanden über sein bevorstehendes Sterben reden zu können. 'Keiner fragt mich, wie´s mir geht', sagte er. 'Weil alle Schiss haben. Dieses krampfhafte Reden über alles Mögliche, das tut weh.'

Dresden -"Noch keine Ausstellung in all den Jahren ist so gerade und schnörkellos ins Zentrum unserer Menschlichkeit gestoßen", sagt Klaus Vogel, der Leiter des Dresdner Hygienemuseums, vor der Eröffnung der Fotoausstellung "Noch mal leben". Der Fotograf Walter Schels und die Journalistin Beate Lakotta haben 24 Menschen vor und nach ihrem Tod portraitiert, und sie haben das mit einer atemberaubenden Eindringlichkeit getan.

Das Sterben wird auf den überlebensgroßen Fotos und in den Texten über das, was die Portraitierten in ihren letzten Tagen, Wochen oder Monaten bewegte, weder verbrämt noch beschönigt. Und doch werden die Betrachter nicht ungetröstet entlassen. Aus den Bildern und Texten strahlt die Würde derer, die freiwillig Einblick in ihr Leben gegeben haben. Und obgleich jede Pore und jede Falte zu erkennen ist, sind die Gesichter von einzigartiger Schönheit.

Manche wirken bereits vor dem Sterben friedlich und entspannt, aus anderen spricht Auflehnung oder Anspannung, die sich im Tod auflöst. Die Texte sind eine Brücke zu den Fotos. "Wenn man sie liest, öffnet sich das Gesicht", sagt Walter Schels, Jahrgang '36, der mit fotografischen Charakter-Studien bekannt wurde.

Da ist zum Beispiel die 30-jährige Silke Boehmfeld, die fast gleichzeitig mit ihrem sechsjährigen Sohn Jannick an Krebs erkrankt ist. Ihr großes Ziel war es, Jannick zu überleben, und das hat sie mit großer Anstrengung geschafft. Mancher haderte in seinen letzten Tagen mit Gott, anderen geht es erstmals richtig gut. Der 57-jährigen Ursula Appeldorn zum Beispiel, die psychisch krank ist. "Jetzt bin ich vollkommen gesund", hat sie gesagt, und ihr warmer, wacher Blick scheint genau das zu bestätigen.

Dass Walter Schels und Beate Lakotta die Sterbenskranken in Hospizen suchten und fanden, hatte nicht nur organisatorische Gründe. In Krankenhäusern habe sie sehr häufig erlebt, dass der Tod weit weggeschoben werde, erläutert die 39-jährige Beate Lakotta, Wissenschaftsredakteurin bei der Zeitschrift "Spiegel". Todgeweihte würden oftmals in falschen Illusionen gelassen und bis zum Schluss vertröstet nach dem Motto "Das wird schon wieder!"

Wer in ein Hospiz gehe, der entscheide sich dafür hingegen bewusst im Blick auf sein bevorstehendes Sterben. Beate Lakotta hat festgehalten, wie intensiv viele Menschen, die sich auf die Begrenztheit ihrer Lebenszeit einstellen dürfen, die verbleibenden Augenblicke erleben.

"Jeder Moment wird kostbar", sagte Wolfgang Kotzaln beispielsweise einige Wochen vor seinem Tod. "Jetzt sehe ich alles anders: jede Wolke am Fenster, jede Blume in der Vase. Auf einmal ist alles wichtig."

In einem Pressegespräch vor der Ausstellungseröffnung erzählten die beiden Autoren auch von ihren Ängsten, von ihrer Scheu etwa, Menschen zu fragen, ob sie über ihr eigenes Sterben sprechen möchten und ob sie damit einverstanden sind, nach ihrem Tod fotografiert zu werden. Die meisten, die sie ansprachen, waren zu ihrer anfänglichen Überraschung jedoch sehr bereitwillig. Das Redebedürfnis und die Erleichterung, sich nicht verstellen zu müssen, waren groß, gerade bei denen, die im Freundes- und Familienkreis niemanden hatten, der bereit war, mit ihnen über ihr bevorstehendes Sterben zu sprechen.

"Ich bin sehr dankbar, diese Arbeit gemacht zu haben", sagt Walter Schels. Vorher habe er große Angst vor dem Tod gehabt, und es kostete ihn große Anstrengung, sich der Begegnung mit den Sterbenden zu stellen. Das Portrait mit dem ersten Sterbenden bleibt für ihn unvergesslich: "Ich war noch nie einer Leiche so nahe gewesen, und diesen Menschen hatte ich sehr gut kennen gelernt. Ich fühlte ihn noch, doch er war tot. Ich glaube, dass ich meine Angst vor dem Tod jetzt überwunden habe."

Für ihre 2003 im "Spiegel" veröffentlichte Reportage "Noch mal leben vor dem Tod" haben Schels und Lakotta den Hansel-Mieth-Preis für engagierte Reportagen und den Deutschen Sozialpreis gewonnen. Die Porträtfotos wurden beim Wettbewerb World Press Photo 2004 mit einem zweiten Preis ausgezeichnet und erhielten einen Lead Award 2004 und eine Goldmedaille des Art Directors Club. Die Ausstellung "Noch mal leben" ist bis zum 7. November dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr im Dresdner Hygienemuseum am Lingnerplatz 1 zu sehen. Weitere Ausstellungsorte sind geplant.

Dorothee Wanzek

Begleitend zur Ausstellung findet im Hygienemuseum eine Ringvorlesung in Kooperation mit der Akademie für Palliativmedizin und Hospizarbeit und der TU Dresden statt. Eröffnet wird die Vorlesungsreihe am 13. Oktober. 15 Uhr Besichtigung der Ausstellung "Noch mal leben" mit Beate Lakotta. 16.45 Einführung in die Vorlesungsreihe 17.15 Uhr Gespräch zur Ausstellung mit Beate Lakotta. Das Buch zur Ausstellung enthält umfangreichere Texte: Beate Lakotta und Walter Schels, Noch mal leben vor dem Tod - Wenn Menschen sterben, DVA München 2004, 39,90 Euro.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 41 des 54. Jahrgangs (im Jahr 2004).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Mittwoch, 06.10.2004

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