Den anderen Menschen leiden können
von Pater Damian Meyer OP (gest. 2019)
"Ich mag dich leiden!", sagen wir, wenn uns jemand sympathisch ist. So ein Wort kann einem leicht von den Lippen kommen, wenn es von positiven Gefühlen getragen ist und der / die andere offensichtlich liebenswerte Eigenschaften aufweist. Dann kann der Ausdruck bedeuten: "Ich hab dich gern, ich mag dich, ich freue mich, dich kennen zu lernen, ich liebe dich." Das kann manchmal recht oberflächlich gemeint sein, wie ja auch das Wort "Liebe" inflationär gebraucht wird.
Nehmen wir den Ausdruck "Ich mag dich leiden" aber einmal richtig beim Wort, dann eröffnet sich eine andere Perspektive: Wir erfahren, worin wahre Liebe besteht. Wörtlich genommen heißt das: Ich vermag die Leiden, die du mir zufügst, zu tragen; du bist von mir gern gelitten! Dahinter steht die ganz nüchterne Erfahrung: Wir Menschen - ob zwischen Eltern und Kindern, Ehegatten, Freunden, Kollegen - tun uns gegenseitig Leid an, absichtlich und auch, ohne es zu wollen. Wir tun uns gegenseitig weh, verletzen und kränken einander. Wir tun es, weil wir zu sehr mit uns selbst beschäftigt, unaufmerksam sind, weil wir grundverschieden sind oder seelische Verletzungen mit uns herumschleppen.
Wenn wir uns trotz dieser gegenseitigen Verletzungen nicht von den Menschen abwenden, mit denen wir täglich zu tun haben, dann erst zeigen wir wahre Liebe. Wenn wir einen Mensch nicht "fertigmachen" und mit ihm "fertig sind", weil er uns gekränkt hat, dann lieben wir ihn wirklich. Denn dann sind wir bereit, den anderen in seiner anderen und manchmal verletzenden Art zu ertragen und zu leiden. Wir haben nur so viel Liebe, wie wir bereit sind, den anderen zu leiden. Im ersten Korintherbrief heißt es von der Liebe: "Sie erträgt alles ..., hält allem stand" ( 1.Kor 13,7).
Wahre Liebe zeigt sich vor allem auch in der Bereitschaft, das Leid des Mitmenschen mitzutragen. Martin Buber zeigt das in einer seiner Erzählungen der Chassidim: "Wie man die Menschen lieben soll, habe ich von einem Bauern gelernt. Der saß mit anderen Bauern in der Schenke und trank. Lange schwieg er wie die anderen alle; als aber sein Herz vom Wein bewegt war, sprach er seinen Nachbarn an: ,Sag du, liebst du mich oder liebst du mich nicht?' Jener antwortete: ,Ich liebe dich sehr.' Er aber sprach wieder: ,Du sagst, ich liebe dich, und weißt doch nicht, was mir fehlt. Liebtest du mich in Wahrheit, du würdest es wissen.' Der andere vermochte kein Wort zu erwidern, und auch der Bauer, der gefragt hatte, schwieg wieder wie vorher. Ich aber verstand: Das ist die Liebe zu den Menschen, ihr Bedürfnis zu spüren und ihr Leid zu tragen."
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Mittwoch, 27.06.2001