Im Herbst des Lebens
Ein Beitrag von Pater Damian Meyer
"Jede Blüte will zur Frucht, / Jeder Morgen Abend werden, / Ewiges ist nicht auf Erden / Als der Wandel, als die Flucht. // Auch der schönste Sommer will / Einmal Herbst und Welke spüren. / Halte, Blatt, geduldig still, / Wenn der Wind dich will entführen. // Spiel dein Spiel und wehr dich nicht, / Lass es still geschehen. / Lass vom Winde, der dich bricht, / Dich nach Hause wehen." Dieses Gedicht von Hermann Hesse spricht im Bild des welken Blattes von der Hinfälligkeit und vom Altwerden des Menschen. Wie wir in der Natur in jedem Herbst das Absterben der Pflanzen und Kahlwerden der Bäume beobachten, so müssen wir Menschen es einfach annehmen, alt und gebrechlich zu werden. Wenn wir auch dank der medizinischen Forschung unserem Lebensalter etliche Jahre haben hinzufügen können - wir gehen dennoch unausweichlich dem Ende entgegen. Es hat wenig Sinn, der "schönen Jugendzeit" nachzutrauern oder sich dem allgemeinen Trend der Verherrlichung des Jungseins anzuschließen.
"Jede Blüte will zur Frucht": Der Herbst bringt köstliche Früchte. Auch für den alten Menschen ist die Zeit der Ernte gekommen. Jeder Mensch kann aus seiner Lebensernte - mag sie ihm noch so karg vorkommen - etwas Schönes und Köstliches, Wertvolles und Liebenswertes vorweisen. Und für jeden Menschen sind die Früchte seines Lebens etwas Einmaliges, Unverwechselbares, das nur er allein in dieser Form hat reifen lassen. Früchte fallen von selbst vom Baum oder werden gepflückt. In Hesses Gedicht ist zweimal das Wort "Lass" betont: "Lass es still geschehen", "Lass dich nach Hause wehen". Das weist hin auf die Gelassenheit, das Loslassenkönnen, das Freiwerden.
Dass das Alter nicht eine Zeit zum Trübsalblasen sein muss, sondern seine eigenen Vorteile und Freuden hat, schildert ein Gebet von Elise Maclay: "Herr Gott, du und ich, wir haben ein Geheimnis. Das Altwerden bringt einiges mit sich, was Spaß macht. Wir müssen uns nicht mehr von der Welt plagen lassen. Die Leute übersehen uns. Wir brauchen nicht mehr den Schein zu wahren, sondern können auf kindliche Freuden zurückgreifen: Zusehen, wie eine Spinne ihr Netz webt. Vor einem Licht Schattenbilder an die Wand werfen. Statt einer Hauptmahlzeit Kompott mit Sahne essen. Die ganze Nacht wach bleiben. Sterne zählen. Trödeln. Zu Hause bleiben und mit einem alten Freund Schach spielen. Einen verrückten Hut tragen. - Warum hast du mir nicht verraten, dass das Altwerden neben allem, was ich daran hasse, auch manches Vergnügen mit sich bringt? Ach, ich weiß: Weil ich es nie geglaubt hätte."
Pater Damian Meyer
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 21.10.2004