Der nahe Gott
Ein Beitrag von Pater Damian Meyer
Rabbi Tanchum erzählte: Auf einem heidnischen Schiff, das auf dem Mittelmeer segelte, befand sich auch ein jüdisches Kind. Ein gewaltiger Sturm erhob sich auf dem Meer. Jeder einzelne Passagier griff nach seinem Götterbild und rief es an. Als die Leute sahen, dass das Anrufen der Götterbilder nichts nutzte, sprachen sie zu dem jüdischen Kind: "Steh auch du auf, Söhnchen, und ruf deinen Gott an! Wir haben nämlich gehört, dass er euch antwortet, wenn ihr zu ihm schreit, denn er ist mächtig." Das Kind stand sofort auf und schrie zu Gott mit seinem ganzen Herzen. Gott nahm sein Gebet an, und das Meer beruhigte sich. Als sie am Trockenlande ausstiegen, ging ein jeder, seine Einkäufe zu machen, nur das jüdische Kind nicht. Da sprachen sie zu ihm: "Willst du dir nicht auch etwas kaufen?" Das Kind antwortete: "Was wollt ihr von so einem elenden Fremdling, wie ich es bin?" Die Leute erwiderten: "Du - ein elender Fremdling?! Wir sind doch die elenden Fremdlinge, denn wir sind hier, während unsere Götter in Rom oder in Babylonien sind. Ja, selbst die Leute, die ihre Götter hierher mitgebracht haben, wurden von ihren Göttern enttäuscht. Du aber, wo du auch hingehst, dein Gott ist mit dir." Daher heißt es (Deuteronomium 4,7): "Denn welche große Nation hätte Götter, die ihr so nah sind, wie Jahwe, unser Gott, uns nah ist, wo immer wir ihn anrufen?"
Als Mose bei der Erscheinung im brennenden Dornbusch nach dem Namen Gottes fragt, offenbart sich dieser als der "Ich-bin-da", oder genauer: "Ich werde / will in / bei euch da sein als der ich in / bei euch da sein werde / will." Er zeigt sich als ein Gott, der mit seinem Volk geht, der es in die Freiheit führt. Ein Gott des Weges und der Geschichte. Er hat seine eigene Geschichte an die Geschichte seines Volkes gebunden. Er ist ein dynamischer, kein statischer Gott, der sich in einer Statue, einem Götterbild darstellen ließe. "Gottesbilder würden den biblischen Gott festlegen; sie würden ihn jener Freiheit und Spontaneität berauben, welche die Liebe braucht, die für Überraschungen immer wieder gut ist." (Erich Zenger). Es ist eine spannungsreiche Liebe Gottes, die oft ganz anders aussieht, als wir sie uns ausmalen und wünschen: Sie bewahrt nicht immer vor Unglück und Leid, ist keine Garantie für Glück und Erfolg. Es geht nicht immer so aus wie in der Geschichte, die Rabbi Tanchum erzählt. Es ist aber eine Liebe, die durch Unglück, ja durch den Tod hindurch die rettet, die sich auf diese Liebe im Glauben verlassen. Durch die wechselvolle Geschichte des Volkes Israel hindurch und durch die Lebensgeschichte eines Gläubigen zeigt sich am Ende dann Jahwe als Gott, der zu seinem Namen steht: "Der Herr, dein Gott, ist ein barmherziger Gott. Er lässt dich nicht fallen und gibt dich nicht dem Verderben preis und vergisst nicht den Bund mit deinen Vätern, den er ihnen beschworen hat" (Dt 4,31).
Pater Damian Meyer
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Freitag, 29.10.2004