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Lebenssituation in Ostdeutschland: Nicht gerade rosige Aussichten

Politiker und Kirchenvertreter diskutierten Arbeitsmarktreformen in den neuen Bundesländern

Magdeburg (ep) -Die neuen Länder müssen im nächsten Jahrzehnt weiter mit der Abwanderung vieler Arbeit Suchender rechnen, ja sogar darauf hoffen. Grund: "Volkswirtschaftlich gesehen sind ein Drittel der Menschen überzählig." Diese Prognose wurde bei einem Gesprächsabend im November im Magdeburger Roncalli-Haus formuliert. Zu der Veranstaltung zum Thema "Arbeitsmarktreformen in den neuen Bundesländern" hatte der Leiter des Katholischen Büros in Sachsen-Anhalt, Stefan Rether, den Staatssekretär im Ministerium für Wirtschaft und Arbeit, Reiner Haseloff, und den Magdeburger Sozial- und Wirtschaftsethiker und Augustinerchorherren Clemens Dölken ins Podium eingeladen.

Innerhalb der nächsten zehn bis 15 Jahre werde sich die Bevölkerung in den neuen Ländernd durch Überalterung und Abwanderung von 17,3 Millionen 1989 auf zirka zwölf Millionen reduzieren, so Staatssekretär Haseloff (CDU), der Vertreter Sachsen-Anhalts in der Monitoring- Gruppe zu Hartz IV ist. Um diesen Prozess zukunftsorientiert zu gestalten, gelte es, möglichst den Jungen Arbeitschancen zu bieten und sie so im Land zu halten und die Älteren über geförderte Maßnahmen wie "Aktiv zur Rente" "menschenwürdig vom Markt zu nehmen".

Haseloff verdeutlichte die Entwicklung am Beispiel Sachsen- Anhalts: Von den 2,9 Millionen Einwohnern 1990 sind inzwischen 400 000 weggezogen, 260 000 sind arbeitslos, weitere 40 000 Menschen in Maßnahmen. Derzeit gebe es 720 000 Arbeitsplätze. Wenn man davon ausgehe, dass jede Stelle drei Menschen ernährt, gebe es Arbeitsplätze für etwa 2,1 Millionen Einwohner. Zusätzliche Jobs zu schaffen, sei schwierig. Sachsen- Anhalt habe mit 3,3 Milliarden Euro Investitionen nur 7500 Arbeitsplätze schaffen können und damit alles, "was im Angebot war, abgeschöpft".

Verschiedene Situation in Ost und West

Der Staatssekretär äußerte Verständnis für die große Verunsicherung der Menschen in den neuen Ländern. Durch die Hartz- IV-Gesetze werde der "überwiegende Anteil der Arbeitslosen finanziell eingekürzt, ohne eine Alternative auf dem Arbeitsmarkt zu haben". Dem gegenüber seien viele der Betroffenen in den alten Ländern Langzeitarbeitslose, die nun etwas mehr Geld bekämen, künftig rentenversichert seien, über Ein-Euro- Jobs die Chance hätten, dazuzuverdienen. Haseloff: "Deshalb ist der Westen ruhig geblieben", hat es kaum Proteste gegeben.

Im Osten habe man die Arbeitnehmer seit 1990 aufgefordert, Geld für die Altersabsicherung zu sparen. Ab 1. Januar müssten die Menschen ihre Ersparnisse teilweise auflösen, um überhaupt Arbeitslosengeld II zu bekommen. Haseloff: "Da fragen sich die Leute schon, ob sie im falschen Film sind." Angesichts der prekären Arbeitsmarktlage gebe es kaum Planungssicherheit etwa für Ehepaare, eine Familie zu gründen, was junge Leute wegziehen lasse.

Mit der Diskussion um Hartz IV werde eigentlich "eine rein westdeutsche Debatte geführt, die aber nötig ist, damit die alten Bundesländer in Gang kommen", so der Staatssekretär. "Keiner sagt, dass die Nivellierung nach unten eine normale Entwicklung ist, die mit der Globalisierung zusammenhängt", so Haseloff weiter. Erfolge der Erschließung neuer Märkte durch Verlagerung der Arbeitsplätze etwa nach China würden erst in der nächsten Generation zur Wirkung kommen. Deshalb müsse mit dem "Abwuchs auch des persönlichen Einkommens" gerechnet werden -und dies angesichts gesättigter Märkte und eines noch bis 2020/30 andauernden Transformationsprozesses in den neuen Ländern. Mit dem Arbeitslosengeld II und vielleicht durch einen Ein-Euro-Job sowie die Übernahme von Miets- und Energiekosten seien die von Arbeitslosigkeit Betroffenen dennoch "existentiell nicht in einer Situation, die einen umkommen lässt", so der ostdeutsche Wirtschaftsfachmann. Haseloff forderte Vereine und freie Träger einschließlich der Kirchen auf, mit Fantasie Ein-Euro-Jobs zu schaffen, um Menschen Aufgaben anbieten zu können und die dafür zur Verfügung stehenden Mittel auszuschöpfen.

Ungleichheit ist als Stimulator notwendig

Mit der Agende 2010 habe die Bundesregierung eine Vielzahl von Problemen in Angriff genommen. Niemand sei jedoch richtig in der Lage, alles zu überschauen. "Es gibt keinerlei idealtypische Volkswirtschaftslehre mehr, die hier Anwendung finden könnte". Was heraufziehe, sei eine bisher nicht gewohnte Ungleichheit. Ungleichheit sei in der Marktwirtschaft jedoch als Stimulator "inhärent notwendig".

Sozial- und Wirtschaftsethiker Dölken zeigte sich besorgt, dass die komplexen wirtschaftlichen Prozesse von den politisch Verantwortlichen nicht überschaut werden könnten. "Eine Reform, bei der alle den Gürtel eine Zeit lang enger schnallen, damit es anschließend allen besser geht, wäre zu akzeptieren", so Dölken, der derzeit an der Theologischen Fakultät Erfurt Sozialethik lehrt.

"Kirchlicherseits nicht tolerierbar wäre, wenn am Ende die unteren Einkommen unten blieben." Angesichts einer immer größeren Einkommensspreizung sei möglicherweise der politische Souverän gefordert. Kritisch äußerte sich Dölken auch zu den Ein-Euro-Jobs: "Das hätte auch anders konstruiert werden können", ohne Menschen zumindest augenscheinlich mit einem Euro pro Arbeitsstunde abzuspeisen. Stattdessen könnten schlecht bezahlte Tätigkeiten im sozialen, gemeinnützigen, aber auch im privaten Bereich durch staatliche Zuschläge attraktiver gemacht werden. Dölken mahnte großen Einsatz für solide Schulbildung an. Hier könnten die neuen Bundesländer an Attraktivität gewinnen. Es gelte darauf hinzuarbeiten, dass auch in den Niedriglohnländern Sozialstandards etabliert werden, so der Wissenschaftler.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 49 des 54. Jahrgangs (im Jahr 2004).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Freitag, 03.12.2004

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