Wege bahnen in ein erfüllteres Leben
Geistig Behinderte und ihre Angehörigen -eine Leipziger Selbsthilfegruppe mit Tradition
Leipzig (dw) -"Für Mutti!", sagt Bettina Schmelzer bei den Fürbitten und richtet dabei einen langen, liebevollen Blick auf ihre Mutter, die neben ihr steht. Auf die vierteljährlichen Treffen mit Pfarrer Klaus Hecht freuen sich Bettina und ihre Mitstreiter im Leipziger Kreis geistig Behinderter und ihrer Angehörigen immer schon Tage vorher.
Um Wunder und Geheimnisse geht es in der Predigt des Gohliser Pfarrers zum ersten Advent. Er bezieht seine Zuhörer so ein, dass sie den Gottesdienst mit ganzem Herzen mitfeiern können. Er weiß zum Beispiel, dass viele von ihnen oft noch nach Jahren von Begegnungen mit liebenswerten Menschen zehren, die sich einst besonders um sie bemüht haben -die Caritas-Mitarbeiterin Monika Kotulla beispielsweise, die den Kreis vor knapp 40 Jahren mit initiiert und lange begleitet hat, oder Pfarrer Helmut Geiger, der den Leipziger Behinderten und ihren Familien als erster Seelsorger zur Seite stand.
Gottesdienste, bei dem sich geistig Behinderte mit ihren eigenen Fähigkeiten und Begabungen einbringen können, waren in den 60er Jahren eine große Ausnahme. "Wir waren froh, dass unsere Kinder hier auf die Erstkommunion und die Firmung vorbereitet wurden. In den meisten Gemeinden hätte da seinerzeit kein Weg hineingeführt", erinnert sich Barbara Korzak, die mit ihrem Sohn Bernd zu den Gründungsmitgliedern der Gruppe gehört. Lange Zeit trafen sich die Eltern mit ihren behinderten Kindern monatlich. Eine Fördertagesstätte und eine Behindertenwerkstatt entwickelte sich aus dem gemeinsamen Engagement heraus. Viele Tipps und Hilfen, die heutzutage zum Standardangebot staatlicher Behörden gehören, fanden die Familien seinerzeit in ihrer Selbsthilfegruppe.
Aus den Kindern von damals sind längst Erwachsene geworden. Die regelmäßigen Treffen sind ihnen und ihren Eltern jedoch nach wie vor wichtig. Mit Pfarrer Hecht und den Caritas- Mitarbeiterinnen Elisabeth Rösner und Sylvia Zimmermann treffen sie sich viermal im Jahr in der Caritas-Werkstatt für Behinderte St. Michael in Leipzig- Meusdorf. Nach dem gemeinsamen Gottesdienst ziehen sich Eltern und "Kinder" in getrennte Räume zurück. Während ihre Söhne und Töchter einer Erzählung über die Entstehung des Weihnachtssterns lauschten und Adventssterne aus Heu bastelten, sprachen die Mütter und Väter am ersten Adventswochenende mit Pfarrer Hecht über die Bedeutung christlicher Bräuche. "Der Austausch ist uns ganz wichtig", sagt Barbara Korzak. Mittlerweile geht es für sie dabei auch um eigene Gebrechen und um die Sorge: "Was wird aus unserem Bernd, wenn wir selbst einmal nicht mehr können?" Einige der Behinderten sind im Laufe der Jahre bereits vor ihren Eltern gestorben. Auch in dieser Erfahrung tue es den Familien gut, nicht allein zu stehen und Halt in der Gruppe zu finden.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 09.12.2004