Zeitzeugen erinnern sich
Befreiung des KZs vor 60 Jahren
Ich sitze Karl-Joseph Liwicki in seinem Wohnzimmer gegenüber. Der 80-Jährige hat mich gebeten, ihm bei den Aufzeichnungen seiner Erinnerungen an das Kriegsende 1945 in Ellrich zu helfen. Recht genau soll ich sein, mahnt er mich. Und am Ende stand das auf dem Papier:
Es war am 5. April 1945. Ellrich war schon seit Monaten vollgestopft mit SS und den dazugehörenden Wachmannschaften, denn seit März 1944 war im "Bürgergarten" das Häftlingslager "Erich" eingerichtet worden. Auf D wie "Dora" in Niedersachswerfen folgte E wie "Erich" in Ellrich. In den letzten Wochen nun musste "Erich" immer mehr Häftlinge aufnehmen, die aus anderen Konzentrationslagern "evakuiert" worden waren.
Der Heimweg von seinem Dienst in Nordhausen führte Karl-Joseph Liwicki immer am katholischen Pfarrhaus vorbei, meistens betrat er es kurz. Doch heute war nichts wie sonst. In Nordhausen hatte er den ersten von zwei Bombenangriffen miterlebt, und da kein Zug mehr fuhr, musste er den 15 Kilometer langen Heimweg zu Fuß antreten. Obwohl es später als sonst war, betrat er noch das Pfarrhaus. Pfarrer Wilhelm Dominka (von 1941 bis 1947 in Ellrich), ein gebürtiger Dingelstädter, war zu der Zeit zu einem Gottesdienst in Sülzhayn; im Pfarrhaus befanden sich nur die Pfarrhaushälterin Christine Meinhardt sowie deren gefl üchtete Schwägerin aus Düsseldorf mit ihrer zehnjährigen Tochter. Plötzlich, gegen 21 Uhr, klopfte es; eine der beiden Frauen ging öffnen.
Es war nicht schwer zu erraten, was für ein Mensch da vor ihr stand, gehüllt in alte Decken, die verrieten, dass da jemand versucht hatte, Anzug ähnliche Kleidungsstücke daraus zu machen, um die gestreifte Häftlingskleidung wenigstens notdürftig verdecken zu können. Tiefer Schrecken und Angst, Angst auf beiden Seiten. Was tun? Nur der Bruchteil einer Sekunde verging, dann wurde der Fremdling entschlossen hereingewinkt und in das Wohnzimmer des Pfarrers gesetzt. Noch einmal die Frage: Was tun? Das Kind durfte auf keinen Fall etwas erfahren. Aber drei Erwachsene und schließlich auch der Pfarrer mussten sich entscheiden. Oder war es dafür nicht eigentlich zu spät? War sie nicht längst gefallen -mit der hereinbittenden Geste?
Der Häftling war ein polnischer Salesianerpater
Bei dem Häftling handelte es sich um den polnischen Salesianerpater Withold Ornaff. Er war aus dem Lager Dora in Niedersachswerfen auf Transport geschickt worden, konnte aber im Tunnel zwischen Ellrich und Walkenried vom Waggon springen. Im Schatten der Dunkelheit riskierte er den Aufbruch ins nahe Ellrich und kam zum Pfarrhaus. "Er hat wohl richtig geschlussfolgert", fügt Karl- Joseph Liwicki ein. "In dieser Gegend kann unter den vier Kirchen nur die kleinste die katholische sein."
Minuten verrannen, in denen die Menschen im Pfarrhaus von ihrem Pfarrer eine Entscheidung erwarteten. Er entschied sich -wie erwartet -für den Häftling. Dieser bekam, was er brauchte: Kleidung, Nahrung, ein Versteck oben im Pfarrhaus und das absolute Stillschweigen der Wissenden.. Mehr als eine Woche blieb Pater Withold Ornaff dort.
Am 11. April rückten die Amerikaner in Ellrich ein. Noch während der Verhandlungen zwischen dem neuen Bürgermeister und der Besatzungsmacht am nächsten Tag feierte Pater Ornaff nach fünfeinhalb Jahren zum ersten Mal wieder die heilige Messe.
Für Ellrich, die kleine Stadt am Rande des Südharzes, war mit dem 11. April der Krieg vorüber. In der Woche nach dem 15. April tauchten wieder "gestreifte Gestalten" im Stadtbild auf. Sie gehörten zu einem Häftlingstransport, der bis in den Raum Hasselfelde gekommen war. Kampfhandlungen dort verhinderten den Weitermarsch. Was tun, fragten sich die Wachmannschaften. Erschießen? Oder laufen lassen? Die Vernunft (oder war es nur die nackte Angst?) siegte. Die Wachmannschaften ließen die Häftlinge laufen.
Die meisten kehrten nach Ellrich zurück, irgendwie durch die sich aufl ösende Frontlinie. Und dann saß eines Morgens einer von ihnen hinten in der letzten Bank der Ellricher Kirche, noch in Häftlingskleidung, ein polnischer Redemptorist. Er wurde in die Sakristei geholt, von Pater Ornaff herzlich begrüßt. Sie kannten sich, waren aber in unterschiedlichen Lagern gewesen. Über seine Häftlingskleidung zog der Neuankömmling Albe und Messgewand und trat an den Altar, um die erste heilige Messe in Freiheit zu feiern. "Ich werde diesen Gottesdienst nie vergessen", sagte Herr Liwicki, und es ist ihm anzumerken, welchen Schatz an Erinnerungen er ein Leben lang mit sich getragen hatte: "Diesen Anblick und diese Andacht." Der Redemptorist fand bei Liwickis Kleidung und in der kommenden Zeit immer ein warmes Mittagessen.
Manchmal standen vier Priester am Altar
Drei Prieter wirkten zeitweise in Ellrich, manchmal waren es sogar vier, wenn der amerikanische Militärpfarrer hinzukam. Pater Ornaff wurde von Pfarrer Dominka speziell mit der Polenseelsorge beauftragt. Es war Ellrichs große Zeit, sie endete mit dem Wechsel der Besatzung Anfang Juli 1945. Noch bevor die sowjetischen Truppen einrückten, verließen die polnischen Häftlinge Ellrich in Richtung Westen und mit ihnen auch die beiden polnischen Patres, deren Spuren sich in den Wirren der Nachkriegszeit verloren.
Gleich hinter den letzten Häusern von Ellrich sollte bald darauf für 45 Jahre die Grenze zwischen den beiden Teilen Deutschlands verlaufen. Ellrich und die katholische Gemeinde bluteten aus. 1982 verließ der letzte Pfarrer den Ort. Die Gemeinde wurde dem Nordhäuser Pfarrer übertragen. Seit 2003 ist Ellrich keine Pfarrei mehr, nur noch Gottesdienststation. Sonntags versammeln sich zwölf bis 15 Gläubige zum Gottesdienst in der Kirche. Das Pfarrhaus wurde verkauft. -"Aber damals ...", sagt Karl-Joseph Liwicki am Ende seines Berichtes. "Aber damals!"
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 17.04.2005