Schweigen, Zuhören und Hinsehen
Ein Beitrag von Pater Damian Meyer
Es war einmal ein König, der hatte zwei Söhne. Beide waren klug, stark und tapfer, so dass der König nicht recht wusste, wen er zu seinem Thronfolger machen sollte. Um nun herauszufinden, wer von den beiden wohl der geeignetere sei, schickte er beide aus, ein Jahr lang das gesamte Land zu durchreiten und zu erkunden. Er trug ihnen auf: "Sprecht während dieser Zeit kein Wort!" Beide befolgten das Gebot ihres Vaters auf das Vollkommenste. Ein Jahr lang ritten sie schweigend durch das Land. Sogar als sie sich einmal begegneten, sprachen sie kein Wort. Als sie nach einem Jahr an den Hof ihres Vaters zurückkehrten, ließ der König den ersten zu sich rufen und fragte ihn: "Was hast du erfahren?" Der Sohn schüttelte verwundert den Kopf und meinte: "Ich habe nichts erfahren. Du hast mir ja geboten, mit keinem ein Wort zu sprechen, und daran habe ich mich gehalten. Was soll ich also erfahren haben?" Der König ließ den zweiten Sohn rufen "Was hast du erfahren?" Und der Sohn begann zu erzählen, zuerst vom Rauschen der Wälder, vom Duft der Blumen, vom Plätschern der Flüsse und Bäche und von den Gesängen der Vögel. Dann erzählte er von den Menschen, von ihren Sorgen und Freuden. Er erzählte seinem Vater Geschichten, die sich die Menschen im Land erzählen, wenn es abends dunkel wird, er zeigte ihm Spiele, die die Kinder spielen, und er sang ihm Lieder, die die Alten singen. Viele Tage und viele Nächte saßen Vater und Sohn zusammen, und der Sohn erzählte alles, was er erfahren hatte. Da wusste der König, dass er ihn zum Thronfolger machen würde(nach Claudia Auffenberg).
Beim Lesen dieser Geschichte fiel mir die Bitte des Königs Salomo ein: "Verleih daher deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht" (l Kon 3,9). Aber diese Geschichte hat mich persönlich angesprochen: Als Prediger und Seelsorger bin ich ein "Mann des Wortes", manchmal der zu vielen und zu schnellen Worte. Dem Reden aber muss das Schweigen und Zuhören vorausgehen. Oft aber halten Kirchenleute und Politiker lange Reden, ohne auf die Fragen der Menschen aufmerksam gehört zu haben. So reden sie an ihren Problemen und Sorgen vorbei. Auch das "Sprechen mit Gott", das Gebet, muss aus dem Schweigen und Stillewerden und dem Hören des Wortes Gottes entspringen. In allen Religionen werden Stille und Schweigen als notwendig empfunden, um das Göttliche zu erfahren. Besonders im Christentum als einer Offenbarungsreligion ist der Gläubige Hörer des Wortes Gottes, das verkündet wird (vgl. Röm 10,17). Mit einem Wort: Christliches Leben als ein Leben der Liebe zu Gott und zum Nächsten erfordert die Achtsamkeit im Hören und Sehen; die Achtsamkeit des Herzens.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 28.04.2005