Niemals werde ich vergessen
Die Kriegsgeneration stirbt aus
"Niemals werde ich die Flammen vergessen, die für immer meinen Glauben aufgezehrt haben". So beschreibt der Auschwitz-Überlebende Elie Wiesel das Trauma der Vernichtung, das sich für immer in sein Gedächtnis eingebrannt hat. Niemals vergessen bedeutet, Erinnerungen zu haben und bezeugen zu können. Aber wer legt Zeugnis ab, wenn keine Zeugen mehr da sind?
60 Jahre nach Kriegsende, nach Zerstörung und Völkervernichtung gewinnt das Themenfeld Gedächtnis und Erinnerung zunehmend an Bedeutung. Das lebendige Zeugnis verschwindet und stellt die nachfolgenden Generationen vor die Notwendigkeit neuer Formen der kollektiven Erinnerung.
An der Schwelle des neuen Jahrtausends wendet sich der Blick rückwärts, das Erinnern wird zu einer Art Überlebensstrategie, die das Vergessen verhindern muss. Neben Kriegen und Massenvernichtung hat aber auch das Ende dialektischer Geschichtsphilosophien und Fortschrittsutopien dazu geführt, dass anstelle der Zukunft die Vergangenheit zu einem dringenden Anliegen wird.
Gedächtnislücken entstehen schnell. Einen bildungspolitischen Skandal hätte um ein Haar unlängst die brandenburgische Landesregierung ausgelöst, als sie mit wohlmeinender Rücksicht auf die türkischen Mitbürger den Völkermord des mit Deutschland verbündeten Osmanischen Reiches an eineinhalb Millionen Armeniern (1915/16) aus den Schulbüchern streichen wollte. Das Vorhaben hat eine Welle der Entrüstung ausgelöst, sodass Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) höchstpersönlich die Notbremse zog und die Entscheidung zurücknahm. Wütend machte sich ein Geschichtslehrer Luft "Heute streichen wir die Armenier aus dem Gedächtnis. Was wird es morgen sein? Verdun, Stalingrad, Auschwitz oder Treblinka?"
Rauchwolken unter dem schweigenden Himmel
Der 16-jährige Elie Wiesel wurde am 10. April 1945 aus dem Konzentrationslager Buchenwald befreit. Etwa ein Jahr vorher war er mit seiner ganzen Familie aus seinem Heimatort Sighes, einer kleinen Stadt in Siebenbürgen, nach Auschwitz deportiert worden. Dort wurde er von seiner Mutter und seinen drei Schwestern getrennt und hat nie wieder etwas von ihnen gehört. Auf dem Transport nach Buchenwald starb sein Vater an Entkräftung. Elie Wiesel ist der einzig Überlebende der Familie. Vom Schriftsteller François Mauriac gedrängt, bringt er seine Erinnerungen zu Papier. Die "Nacht" beschreibt, was ihm und seiner Familie "die Männer in deutschen Uniformen" angetan haben. "Niemals werde ich den Rauch vergessen. Niemals werde ich die kleinen Gesichter der Kinder vergessen, deren Körper vor meinen Augen unter einem schweigenden blauen Himmel zu Rauchspiralen wurden".
Hier ist kein Vergessen möglich, darf es nicht sein. Aber das Problem des Holocaust-Gedächtnisses ist damit nicht gelöst. Wiesels negative Beschwörung "Ich werde nicht vergessen" lässt die Angst deutlich werden, dass es einen Tag geben kann, an dem die Erinnerungen verblassen, die Bilder unscharf werden, die Ereignisse ausgelöscht werden. Wird er sich wieder und wieder erinnern können, wird er tatsächlich nicht vergessen? Und werden die Nachgeborenen in der Lage sein, die Geschichte lebendig zu halten?
Was braucht das Gedächtnis? Das Vergessen, um neu anfangen zu können, wie Jean Paul Sartre? Aufzeichnungen, um auszulöschen, wie Thomas Bernhard, oder die liebende Vergebung wie Jesus? Unter den Historikern ist gestritten worden, ob der Krieg und die Massenvernichtung als einzigartig in der Geschichte zu gelten haben. Fest steht: Die Ereignisse im letzten Jahrhundert fordern neue Formen des kulturellen Gedächtnisses. Gedächtnis kann hier nur, im Sinne von Jan Assmann, die Zerdehnung der Kommunikationssituation unterschiedlicher Generationen meinen, wie sie jetzt durch das Aussterben der Zeitzeugen erlebt wird.
Nie zu vergessen, ist das Gelöbnis, welches Elie Wiesel in seinem Buch wie auch in seinen anderen Schriften abgegeben hat. Er hat es auf die erste Nacht in Auschwitz datiert. Die Familie ist schon getrennt, die Öfen rauchen und die Häftlinge, die angekommen sind, begreifen, welches Schicksal ihnen zugedacht ist. Für die Nachkommen bedeutet es, sich Erinnerungsräume zuschaffen, die das Grauen des Krieges nicht verharmlosen, kulturelle Landschaften, die nicht nur mahnen, sondern wach halten Und ganz gleich , wie sich diese Formen des Gedächtnisses in Zukunft entwickeln: Wenn sie nur das Vergessen verhindern.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 08.05.2005