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Auf zwei Minuten

Es war Ihm weh ums Herz

Ein Beitrag von Pater Damian Meyer

Pater Damian

Eine altchinesische Geschichte erzählt: "Meng Sun hatte auf der Jagd ein Hirschkalb gefangen und Qin Xi-ba beauftragt, es nach Hause zu schaffen und zuzubereiten. Als die Hirschmutter ihrem Kind klagend hinterherlief, konnte Qin Xi-ba das nicht ertragen und ließ das Hirschkalb frei. Nachdem Meng Sun heimgekehrt war, fragte er, wo das Hirschkalb sei. Qin Xi-ba antwortete: ‚Seine Mutter lief ihm so klagend hinterher, dass ich es wirklich nicht ertragen konnte. So hab ich es schließlich freigelassen.' Meng Sun geriet in Zorn und jagte Qin Xi-ba fort. Nach einem Jahr holte er ihn zurück und machte ihn zum Lehrer seines Sohnes. Seine Diener sagten: ,Sie haben doch Qin Xi-ba bestraft, wie kommt es, dass Sie ihn jetzt zum Lehrer Ihres Sohnes machen?' Meng Sun erwiderte: ,Da er den Schmerz um ein Hirschkalb nicht ertrug, um wie viel mehr wird er für meinen Sohn Mitleid haben!"

Meng Sun hatte erkannt: Man kann den anderen nur wirklich verstehen und ihm helfen, wenn man sich in ihn hineinfühlen, seine Nöte und Bedürfnisse im eigenen Inneren widerspiegeln kann - was besonders für Erzieher gilt. In den helfenden Berufen spricht man von der Grundhaltung der Empathie. Wir versuchen, den anderen zu verstehen, seine Gedanken, seine Gefühle und Einstellungen. Wir hören mit Mitgefühl zu, stellen uns ein auf seine Gefühle, ohne sie völlig zu teilen. Wir schaffen echte Kommunikation mit seinen Gefühlen, aber wahren dennoch einen gewissen Abstand. Nur so können wir ihm wirklich raten und helfen, als Eltern, als Freund, als Seelsorger. Wenn es in einer Familie einen Arzt oder Psychologen gibt, wird er daher im Regelfall ein Mitglied der Familie, das ärztliche Hilfe oder psychologische Beratung braucht, an einen anderen überweisen. Die Haltung der Sympathie geht einen Schritt weiter: Wir teilen wirklich die Gefühle, Sorgen, Freuden und Leiden des anderen. Die Gefühle des anderen entsprechen unseren Gefühlen. Paulus fordert die Gläubigen im Römerbrief (12,15) auf: "Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden!" Ob er den Unterschied zwischen Empathie und Sympathie kannte? Auf jeden Fall wusste er, was Mitleid ist und hat es tief empfunden. Noch mehr gilt das von Jesus, von dem es in den Evangelien mehrmals heißt: "Er hatte Mitleid mit ihm (ihnen)", oder "Ich habe Mitleid mit diesen Menschen". Als ein Aussätziger zu Jesus kommt, hatte "Jesus Mitleid mit ihm; er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will es - werde rein! (Mk 1,41). Fridolin Stier übersetzt "Mitleid haben" sehr treffend mit dem Ausdruck: "Es war ihm weh ums Herz."

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 18 des 55. Jahrgangs (im Jahr 2005).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 08.05.2005

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