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Bistum Dresden-Meißen

"Wir wissen nicht, was uns noch blüht"

Die Sozialreformen in Deutschland waren Thema beim neunten ökumenischen Forum in Dresdenform

Blick in eine ungewisse Zukunft: Patentrezepte für folgende Generationen brachte auch das ökumenische Forum nicht.

Dresden -Klaus Wahrig hält die Reformen in Deutschland für richtig. So könne es nicht weitergehen, meint der Rentner, die Zukunft der jüngeren Generation stehe auf dem Spiel. Dennoch: "Ideal ist das Ganze nicht. Es werden keine Arbeitsplätze geschaffen, die jungen Leute verlassen die Region und für diejenigen, die für einen Euro arbeiten, gibt es meistens auch keine Perspektive", beschreibt Wahrig die Situation.

Beim neunten ökumenischen Forum am 20. Januar in Dresden wollte der evangelische Christ eine Antwort finden. "Sozialstaat und ethische Verantwortung der Kirchen" stand als Leitthema über der Veranstaltung, zu der das Katholische und Evangelische Institut der Technischen Universität (TU) in Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Informationszentrum Dresden eingeladen hatten. Die Diskussionen um den Sozialstaat, aber auch globale Herausforderungen wie die Flutkatastrophe in Südasien dürften die wissenschaftliche Theologie nicht unberührt lassen, führt der geschäftsführende Direktor des Instituts für Katholische Theologie, Albert Franz, in das Thema ein. Den großen Herausforderungen der Zukunft könne man nicht "in konfessionalistischer Enge, sondern nur in ökumenischer Gemeinsamkeit begegnen".

Mit dem Dresdner Volkswirt Niels Krap hatten sich die Organisatoren einen "Globalplayer" eingeladen, der von sich selbst sagt, dass man heute aus "guten Gründen" neoliberal sein könne. "Muss, wer lange lebt, auch lange arbeiten?", lautete die provozierende Frage, die Krap den rund 60 Besuchern im Victor- Klemperer-Saal der Universität stellt. Seine Antwort lautet: Ja. Krap, der einen Gang durch die Geschichte der sozialen Sicherungssysteme unternimmt, liefert jedoch im wesentlichen nichts Neues: Die "Zauberworte" der Zukunft heißen Verlängerung der Lebensarbeitszeit, Eigenverantwortung und persönliche Absicherung. Die weltweite wirtschaftliche Globalisierung verlange auch besonders von deutschen Arbeitnehmern größere Flexibilität, was im Klartext nichts anderes bedeutet als Lohnsenkung und Verzicht auf bisherige Sozialleistungen. "Sonst werden sich die Standortbedingungen in Deutschland weiter verschlechtern", ist sich Krap sicher. Damit folgt er eher konservativen Wirtschaftstheorien -von Alternativen erfährt der Zuhörer nichts.

Aus dezidiert "protestantischer Sicht" referiert Ralf Evers von der evangelischen Hochschule für Sozialarbeit über die "Grenzen einer Religion der Freiheit im gesellschaftlichen Kontext", ein Thema, das zunächst so gar nicht zu den Problemen des modernen Sozialstaates passen will. Dennoch: Letztlich sei das Individuum die gesellschaftsprägende Kraft -und dieses Individuum habe sich in der Postmoderne verändert -die Vorstellungen von der Freiheit, der Gestaltung des Glaubens, des Gewissens, haben sich seit der Aufklärung "zum Subjekt" hin gewandelt. Diese neue Wirklichkeit zeige sich vor allem am "Elend der Welt", das durch Spaltungstendenzen, Verlust und Orientierungslosigkeit gekennnzeichnet sei. Evers, dessen Vortrag sich mitunter wie Auszüge aus einer einführenden Vorlesung über die Theologie des Sozialen ausnimmt, plädiert für eine neue Auffassung von Gerechtigkeit, die mehr als Verteilungsgerechtigkeit sei und mit "Beteiligung und Befähigung" der Menschen an der Gesellschaft zu tun habe.

Der Hannoveraner katholische Theologe Gerhard Kruip berichtet -weitaus strukturierter als sein Vorredner -vom Streit über das jüngste Papier der deutschen Bischöfe zur Zukunft des Sozialstaates: "Das soziale neue Denken". Das Papier wurde nicht nur vom früheren Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) -"Die Kirche schafft den Sozialstaat ab" -, sondern auch von namhaften katholischen Sozialethikern wie dem Frankfurter Jesuiten Friedhelm Hengsbach scharf kritisiert. Kruip räumt ein, dass der Kern des Konfliktes vor allem dadurch gekennzeichnet gewesen sei, dass man kirchlicherseits selbst nicht weiß, wie man die Lage insgesamt einzuschätzen habe und "wie dramatisch die Situation wirklich ist". Weniger mit dem Mut der Verzweiflung als mit der aufrichtigen Sorge um die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland, formuliert Kruip mögliche Aufgaben der Kirche: Sie könne keine Patentrezepte liefern, wohl aber auf Gerechtigkeitsdefizite aufmerksam machen. "Sie kann Anwalt derer sein, die sich nicht zu Wort melden können".

Für den Rentner Klaus Wahrig zeigte auch die Podiumsdiskussion: Die Gesellschaft scheint in der Auffassung über das Funktionieren des Sozialstaates eher gespalten als geeint zu sein. Aber demographischer Wandel, Globalisierung, zunehmender wirtschaftlicher Wettbewerb -all das lässt sich nicht mehr aufhalten. "Wir wissen gar nicht, was uns da noch blüht", meint eine Teilnehmerin hinter vorgehaltener Hand. Doch: Nach dem diesjährigen ökumenischen Forum in Dresden ist genau dies deutlicher geworden.

Andreas Schuppert

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 4 des 55. Jahrgangs (im Jahr 2005).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 30.01.2005

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