Zwei Wölfe in meinem Herzen
Ein Beitrag von Pater Damian Meyer
Ein alter Indianer saß mit seinem Enkelsohn am Lagerfeuer. Es war schon dunkel geworden und das Feuer knackte, während die Flammen in den Himmel züngelten. Der Alte sagte nach einer Weile des Schweigens: "Weißt du, wie ich mich manchmal fühle? Es ist, als ob da zwei Wölfe in meinem Herzen miteinander kämpfen würden. Einer der beiden ist rachsüchtig, aggressiv und grausam. Der andere hingegen ist liebevoll, sanft und mitfühlend." – "Welcher der beiden wird den Kampf um dein Herz gewinnen?", fragte der Junge. "Der Wolf, den ich füttere," antwortete der Alte.
Der Weisheit des alten Indianers werden die meisten von uns aus eigener Erfahrung zustimmen können. Dabei kommt einem das bekannte Wort aus Goethes "Faust" in den Sinn: "Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust."
Wir fühlen uns hin und her gerissen zwischen Gefühlen und Impulsen der Rache und Aggressivität, wenn wir angegriffen werden oder scharf kritisiert werden, und der nüchternen Überlegung, ob der andere mit seiner Kritik nicht doch Recht hat. Welche Kräfte gewinnen in uns die Oberhand? Der Indianer sagt: Es hängt davon ab, ob wir durch die Praxis – "den Wolf füttern" – die liebevolle und mitfühlende Seite in uns wachsen lassen und stärken, oder aber immer wieder unseren Impulsen der Rache und Angriffslust nachgeben. Der Mensch ist ja nicht einfach von Hause aus gut, sondern muss das Gute ein ganzes Leben lang einüben. Er ist, um in der Sprache der christlichen Tradition zu reden, aufgerufen, ethische Grundhaltungen (Tugenden) zu entwickeln und zu pflegen, zum Beispiel die vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Zucht und Maß. Wer immer wieder Nächstenliebe und Gerechtigkeit einübt, wird eher sanft und mitfühlend seinen Mitmenschen entgegentreten.
Ich glaube, der Konflikt zwischen den beiden Seiten unserer Persönlichkeit wird uns trotz der richtigen "Fütterung" immer begleiten und herausfordern. Der heilige Paulus hat diesen Kampf und sein eigenes Zerrissen-Werden im Römerbrief (Kapitel 7) dramatisch beschrieben. "Ich weiß, dass in mir, das heißt, meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt; das Wollen ist bei mir vorhanden, aber ich mag das Gute nicht zu verwirklichen. Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will ... Ich unglücklicher Mensch!" Mit guten Vorsätzen ist nicht geholfen. Am guten Willen liegt es nicht. Paulus weiß: Er kann den Kampf nicht allein gewinnen. So setzt er im Glauben auf Jesus Christus, der ihn erlöst, ihn frei macht. Indem er seine Schwäche erkennt und zugibt, öffnet er sich für die Stärke, die Gott ihm gibt: "Alles vermag ich durch ihn, der mir Kraft gibt" (Philipperbrief 4,13).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Freitag, 03.06.2005