Hinwenden zum Mitmenschen
Ein Beitrag von Pater Damian Meyer
"Gegen Aufgeblasenheit helfen Nadelstiche am besten", heißt es auf einem Kalenderblatt. Voltaire hat diese Einsicht vor mehr als zweihundert Jahren mit dem Bild des Luftballons ausgedrückt "Die Eigenliebe ist ein mit Wind gefüllter Ballon, woraus Stürme hervorbrechen, wenn man hineinsticht." Es geht hier nicht um die notwendige positive Selbsteinschätzung, um die rechte Eigenliebe, sondern um das zur Übergröße aufgeblasene Ego, wenn wir derart von uns selbst erfüllt sind, dass sich alles auf uns beziehen muss. Menschen, die sich für das Zentrum des Universums halten, die keine Niederlage ertragen können, ihre Schwächen nicht eingestehen, die Stärken und Verdienste anderer nicht anerkennen, sind uns sehr unsympathisch, ja, unerträglich.
Wie aber kommt man aus den Verliesen des Ego in die Freiheit von den alten Interessenmustern? Bildlich gesprochen: Was für Nadelstiche könnten unsere aufgeblasene Ich- Zentriertheit zum Platzen bringen? Es gibt wohl kaum ein Rezept, von der überstarken Selbstbezogenheit loszukommen zu einer offenen Hinwendung zum Mitmenschen. Vielleicht aber können folgende Erfahrungen helfen, sein Ego auf eine erträgliche Größe zu reduzieren.
Erstens: Leiden. Leiden hilft tatsächlich, zu wachsen und reif zu werden. Dabei suchen wir nicht das Leid oder die Krankheit, sondern lassen das Unvermeidliche an uns herankommen. Dann lernen wir, wie verwundbar wir sind, wir schauen realistisch auf uns selbst und erfahren, wie sehr wir auf die Hilfe anderer angewiesen sind. "Die Befreiung von der Selbstsucht ist meist eine schmerzhafte Operation, um so schmerzhafter, je tiefer das Geschwür sitzt. Da muss eben ins Lebende geschnitten werden. Der Kranke soll dabei dem himmlischen Arzt nicht in den Arm fallen" (Bischof Paul Wilhelm von Keppler).
Zweitens: Die Erfahrung des Göttlichen, einer höheren Macht in unserem Leben kann uns helfen, Achtung und Ehrfurcht vor allem Lebendigen zu gewinnen. Sie macht uns unsere Geschöpflichkeit und damit unsere Grenzen und unsere Sterblichkeit bewusst. Der Glaubende lebt in neuen Verhältnissen.
Drittens: Schließlich ist es die Liebe, die uns aus dem Gefängnis unserer Ich- Zentrierung herausführt. Wer jemanden von Herzen liebt, ist imstande, von sich abzusehen und sich auf das Wohl des anderen zu konzentrieren. Es ist wie eine Verlagerung des eigenen Schwerpunkts in den anderen hinein. "Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf‘ "(l Kor 13,4).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 26.06.2005