Ein Maßstab für das geistliche Leben
Ein Beitrag von Pater Damian Meyer
Ziel ansteuern, verlassen wir uns nicht aufs Geratewohl, sondern schauen in Straßenkarten nach, achten auf Richtungsschilder oder wir verfügen sogar über ein eingebautes elektronisches Navigationssystem. Wir wissen, ob wir die kürzeste Strecke nehmen oder einen Umweg. Wie steht es aber damit in unserem geistlichen Leben? Können wir wissen, ob wir auf dem Weg zu Gott und den Mitmenschen Fortschritte machen? Wissen wir, ob wir vorwärts oder rückwärts gehen, ob wir uns bewegen oder stehen bleiben? Wer gibt uns Orientierung, einen Standpunkt? Wer gibt uns einen Maßstab an die Hand, mit dem wir unser geistliches Leben messen können?
Ein syrischer Mönch hat gegen Ende des 5. Jahrhunderts n. Chr. mystische Texte verfasst, die in einer bilderreichen Sprache Auskunft in unserer Frage geben. Der Autor hat seine Schriften unter dem Namen "Dionysius Areopagita" veröffentlicht. Das ist der Mann, der in Athen gläubig wurde und sich Paulus anschloss (nach Apg 17,34). Hier sein Text:
"Wir sind nicht so klug, dass wir von uns selbst immer die Richtung wüssten. Man könnte schon meinen, dass man einen Felsen ans Schiff zöge, während man doch das Schiff und sich selbst zum Felsen zieht. Man könnte schon meinen, dass man im Leben einen Schritt vorwärts oder rückwärts tut, und in Wahrheit kommt einem nur das Andere entgegen. Man könnte schon meinen, dass man im Leben feststünde und die anderen kämen zu einem. Und dabei bewegt man sich selber auf diese anderen zu, die selber ganz unbeweglich stehen. Wer kann wissen, welche Richtung er hat? Wer zieht und wer sich bewegt und wer steht? Der allein, der einen Maßstab hat, der über den Dingen steht. Der Beter" (Dionysius Areopagita).
Das Gebet ist der "Ernstfall des christlichen Glaubens" (W. Kasper). Es ist sprechender Glaube, Glaube im Vollzug. Die Grundaussage jeden Gebets ist "Gott, ich glaube an dich." Im Glauben lasse ich mich ganz ein auf den lebendigen Gott Jesu Christi. Ich berge mich in die Liebe des Vater-Gottes, der immer größer ist als alle Fragen, die er uns aufgibt. Ich vertraue ihm mit ganzem Herzen. Der Areopagit will also sagen: Wer lebendigen Glauben an Gott hat und ihn im Gespräch mit Gott zum Ausdruck bringt, wer vertrauensvoll auf ihn setzt, der gewinnt Orientierung. Und dann braucht er nicht mehr ängstlich zu fragen, ob er sich Gott nähert oder Gott sich ihm. Vor alle Theologie, vor alles (vermeintliche) Wissen über Gott setzt Dionysius Areopagita das Gebet:
"Wer über Gott sprechen will, kann nichts von sich aus tun. Wer Gottes Werk preisen will, muss Gottes Mund, Gottes Sprache werden. Womit fängt alle Theologie an? Mit Gebet."
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 30.06.2005