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Auf zwei Minuten

Eine Geschichte von der Missgunst

Ein Beitrag von Pater Damina Meyer

Pater Damian

Als der Mullah nach der Gebetszeit aus der Moschee kam, saß ein Bettler am Straßenrand und bat um Almosen. Es ergab sich die folgende Unterhaltung: "Bist du verschwenderisch?" "Ja, Mullah." "Sitzt du gerne herum und trinkst Kaffee und rauchst?" "Ja." "Ich nehme an, du gehst gerne jeden Tag in die Badestuben?" "Ja." "... und machst dir wohl auch das Vergnügen, mit deinen Freunden eins zu trinken?" "Ja, das alles macht mir Spaß." "Soso", sagte der Mullah, und er gab ihm ein Goldstück.

Ein paar Meter weiter saß noch ein Bettler; er hatte das Gespräch mit angehört und bettelte aufdringlich um Almosen. Mullah: "Bist du verschwenderisch?" Bettler: "Nein." Trinkst du gerne Kaffee und rauchst?" "Nein." "Ich nehme an, du gehst gerne jeden Tag in die Badestuben?" "Nein." "... und machst dir auch den Spaß, mit deinen Freunden eins zu trinken?" "Im Gegenteil, ich möchte nichts anderes als ganz bescheiden leben und beten." Daraufhin gab der Mullah ihm eine kleine Kupfermünze. "Aber warum", jammerte der Bettler, "gibst du einem sparsamen und frommen Mann nur einen Pfennig, während du dem Verschwender eine Goldmünze geschenkt hast?" "Ach", antwortete der Mullah, "seine Not ist größer als deine."

Die Ironie in dieser Weisheitsgeschichte lässt uns schmunzeln: Da erhält der zweite Bettler genau das, was er braucht, denn er will ja " nichts anderes als bescheiden leben" – falls seine Aussage ehrlich war und er nicht etwa nur fromm redete. Und eine Kupfermünze sollte ihm genügen. Aber der Blick auf den anderen Bettler, der wegen seines viel größeren Bedarfs eine Goldmünze erhält, lässt ihn zweifeln an der Gerechtigkeit des Gebers. Die Begründung für die Tat des Mullah ist verblüffend einfach: Der erste Bettler ist in größerer Not, weil er auf so vieles verzichten muss, das für ihn wichtig ist. Er hat sich nicht wie der zweite Bettler von diesen kleinen Freuden des Lebens lösen können und ist deshalb nicht so frei.

Mich erinnert die Geschichte an einen Satz aus der Ordensregel des Augustinus: "Durch euren Oberen werde jedem von euch Nahrung und Kleidung zugeteilt, nicht allen in gleicher Weise ... sondern vielmehr jedem nach seinem Bedarf. So lest ihr ja in der Apostelgeschichte: ,Alles hatten sie gemeinsam und jedem wurde zugeteilt, je nachdem er es bedurfte.‘" Wer bescheiden leben kann und weniger Bedürfnisse hat, darf sich in seiner größeren Freiheit glücklich schätzen. Leider gelingt es uns meistens nicht, von missgünstigen Vergleichen mit anderen abzusehen. Und damit wächst auch unsere Not.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 28 des 55. Jahrgangs (im Jahr 2005).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 14.07.2005

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