Gotteserfahrungen im Alltag
Ein Beitrag von Pater Damian Meyer
Vor mehr als dreißig Jahren erregte ein Buch mit dem Titel "Gott existiert, ich bin ihm begegnet", geschrieben von dem französischen Journalisten und Schriftsteller André Frossard, großes Aufsehen. Es wurde weltweit zu einem Bestseller. Es ist das glaubhafte Zeugnis einer außerordentlichen Begegnung mit Gott, die sein Leben verändert hat. Die Frage ist: Wie viele Menschen machen solche Erfahrungen mit Gott? Sieht unser Alltag nicht ganz anders aus? Erfahren wir nicht oft die Abwesenheit und das Schweigen Gottes?
Kann Gott überhaupt von uns unmittelbar erfahren werden? Er ist ja kein "Gegenstand", der in der Welt vorhanden ist! "Unmittelbar" hieße doch; Nichts steht mehr zwischen mir und Gott, ich "sehe" ihn von Angesicht zu Angesicht. Das aber ist uns erst für die Ewigkeit verheißen: "Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht" (l Kor 13,12). Diese "rätselhaften Umrisse" werden erst in unserem Glauben zu Gotteserfahrungen. Wie könnten sie aussehen? Es könnten gewöhnliche oder auch seltene Begegnungen in unserem Leben sein, die wir im Glauben gewissermaßen durchschauen und transparent für Gott sein lassen. Einige Beispiele:
Begegnung mit Menschen, die uns helfen, oder umgekehrt: Wir helfen Menschen in Not, staunen über die Schönheit einer Landschaft, genießen ein Kunstwerk oder ein Musikstücks, es können Momente höchsten Glücks aber auch des Leidens sein.
Es handelt sich dabei immer um vermittelte Erfahrungen Gottes. Eine Geschichte aus Indien kann das verdeutlichen: Ein Frommer ging an jedem Tag in die Kirche, um zu beten. Eines Tages sagte er dem lieben Gott: "Ich besuche dich jeden Tag, du könntest mich eigentlich auch einmal besuchen." Der liebe Gott erwiderte: "Geh‘ nach Haus, morgen werde ich kommen!" Froh eilte der Fromme nach Hause und bereitete sein Haus für den Besuch Gottes vor. Der erste, der am folgenden Morgen an seiner Tür vorbeikam, war ein kleiner Junge. Der schaute durch das Fenster und sah all die leckeren Sachen auf dem Tisch stehen. Er ging hinein und bat um ein Stück Kuchen. Da wurde der Fromme zornig und sagte: "Mach, dass du wegkommst, du Lausbub, das ist nicht für dich, das ist für den lieben Gott!" Am Mittag des Tages kam ein armer Bettler und bat um eine milde Gabe. Und wiederum schimpfte der Fromme: "Machen Sie, dass Sie wegkommen, ich habe keine Zeit, ich warte auf den lieben Gott!" Am Abend des Tages kam ein Pilger, dem erging es genauso. Am anderen Tag kam der Fromme wieder in die Kirche und beschwerte sich beim lieben Gott, dass er nicht Wort gehalten habe. Gott erwiderte: "Dreimal war ich bei dir, und dreimal hast du mich davongejagt. Ich kam im Kind, ich kam im Armen, ich kam im Pilger."
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Mittwoch, 31.08.2005