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Aus der Region

Es braucht noch viel Zeit

Bischof Pickel über die Kirche in Russland

Bischof Clemens Pickel (Mitte) und Volker Niggewöhner von Kirche in Not (links) im Gespräch mit Chefredakteur Matthias Holluba. Foto: Dorothee Wanzek

Seit über 15 Jahren ist der aus Ostdeutschland stammende Clemens Pickel Seelsorger in Russland. Seit sieben Jahren trägt er als Bischof die Verantwortung für die katholische Kirche im Süden des europäischen Teils. Bei einem Redaktionsbesuch gab er dem Tag des Herrn jetzt ein Interview.

Im Vergleich zu anderen ehemaligen Ostblock-Staaten ist die politische Situation in Russland unsicher. Wie wirkt sich die Moskauer Politik auf die katholische Kirche aus?
Ich bin kein Politiker und meine Eindrücke sind subjektiv. Moskau ist weit weg von Saratow - mit dem Auto genau 1000 Kilometer. Das wirkt sich natürlich aus. Als 1991 in Moskau der Putsch war, ist das nur sehr langsam zu uns durchgesickert, und die Folgen wurden erst Monate später spürbar. Das ist der Horizont, in dem die Menschen leben. Sie sehen zwar die Fernsehnachrichten und wissen, wer was gesagt hat. Eine Hoffnung auf Besserung verbinden sie aber nicht mit der Politik. Die Leute haben mit der Sorge um das tägliche Brot zu tun. Das nimmt sie so in Beschlag, dass manche nicht mehr zur Kirche kommen. Nicht, weil sie dem Glauben den Rücken zugekehrt hätten, sondern weil sie drei Arbeitsverhältnisse haben, um ihre Familien ernähren zu können. Das ist die Tagespolitik im Kleinen.
Die sozialen Probleme sind groß. Wie kann die Kirche karitativ in der russischen Gesellschaft tätig werden?
Wir können als kleine Kirche nur Tropfen auf die heißen Steine verteilen, die davon aber kaum kühler werden. Wir können Russland nicht füttern. Aber das ist auch nicht unsere Berufung. Wichtig ist das christliche Zeugnis, das wir auch in der Form der Caritas geben. Wir haben eine Caritas- Struktur, aber die ist leider etwas losgelöst von unseren Gemeinden. Caritas ist nicht überall in den Gemeinden, sondern manchmal neben ihnen. Natürlich könnten wir hier großartige Dinge aufbauen, denn wenn in Russland eine Katastrophe passiert, kann man schnell irgendwo in der Welt Hilfe organisieren. Aber ob das dann vom christlichen Geist getragen ist, weiß ich nicht. In diese Richtung möchte ich nicht weiter.
Wir haben im vergangenen Jahr mit dem "Jahr der barmherzigen Liebe" einen neuen Akzent gesetzt. Wir wollten weg von dem Gedanken: "Wir brauchen humanitäre Hilfe! Schickt uns Hilfstransporte!" Das Jahr sollte uns bewusst machen, dass wir uns in den Gemeinden mit eigenen Kräften zu helfen versuchen müssen. Das ist natürlich in finanzieller Hinsicht weniger, als das, was wir mit ausländischer Unterstützung könnten. Aber es hat unsere Gemeinden lebendiger gemacht. Selbst arme Leute haben gemerkt, dass auch sie helfen können.
Die Gründung der katholischen Bistümer in Russland vor dreieinhalb Jahren hat die Beziehungen zur russisch-orthodoxen Kirche belastet. Haben Sie die Hoffnung auf ein besseres ökumenisches Miteinander?
Hoffen ist christlich. Unsere Kirchen sind Schwestern. Keine andere Kirche ist der orthodoxen Kirche so nahe wie die katholische und umgekehrt. Es müsste also zu machen sein, dass wir eine gemeinsame Basis finden. Natürlich kann die orthodoxe Kirche sagen, wir brauchen die Katholiken nicht, denn wir sind hier die Kirche. Aber wenn wir als Christen sehen, wie die Säkularisierung in der Welt fortschreitet, müsste jeder Christ froh sein, dass es Brüder und Schwestern gibt.
Im Gebiet meines Bistums gibt es 18 orthodoxe Bistümer. Zu einigen Bischöfen habe ich gute Kontakte. Und ich hoffe, dass sich in Zukunft noch mehr Kontakte ergeben. Positive Entwicklungen gibt es bei den Gesprächen zwischen dem Moskauer Patriarchat und dem Vatikan.
Es heißt, Russland sei ein religiöses Land. Sie haben gerade von Säkularisierung gesprochen. Ist das ein Problem?
Wenn jemand sagt, Russland ist ein religiöses Land, sagt er das gewöhnlich auf dem Hintergrund der 1000-jährigen Geschichte oder auf dem Hintergrund dessen, was er vordergründig sieht. In Moskau gibt es jetzt – soviel ich weiß – etwa 500 orthodoxe Kirchen. Die orthodoxe Kirche hat im öffentlichen Leben eine starke Präsenz. Demnächst gibt es für sie vielleicht sogar einen eigenen Fernsehkanal. Aber: Auch die orthodoxe Kirche hat in Sowjetzeiten - das heißt drei Generationen lang - gelitten. Die Glaubenszeugen sind in dieser Zeit gestorben. Die Zahl der orthodoxen Märtyrer ist zigmal größer als die der katholischen Märtyrer. Seit es wieder Religionsfreiheit gibt, haben Russland und seine Menschen sich auf die religiösen Wurzeln besonnen. Sehr schnell sind die Strukturen wieder aufgeblüht. Aber geistlich braucht es noch viel Zeit, bis Leute wirklich wieder in ihrem Glauben stehen und ihn in der Familie weitergeben können. Russland ist heute ein Land, in dem der Glaube nicht mehr selbstverständlich verwurzelt ist.
In einigen deutschen Bistümern finden zurzeit pastorale Zukunftsforen statt. Gibt es so etwas auch bei Ihnen?
Nein. Ich hätte nichts dagegen, aber unsere Möglichkeiten sind sehr begrenzt. Unsere Kräfte sind klein und unsere Strukturen auch. Mein Ordinariat besteht aus zwei Ordensschwestern und mir. Deshalb dürfen, besser wollen wir nichts aufbauen, was morgen oder übermorgen wieder zusammenbricht. Eingerichtet haben wir allerdings in allen Gemeinden meines Bistums in den letzten vier Jahren Pfarrgemeinderäte. Das hat so lange gedauert, weil wir den Leute klar machen mussten, was ein Pfarrgemeinderat ist. Rat heißt russisch Sowjet. Und ein Sowjet, das sind die Chefs. Dass der Pfarrgemeinderat ein beratendes Gremium ist, mussten die Leute erst lernen.
Welche Hoffnung haben Sie für die katholische Kirche in Russland?
Ich habe die begründete Hoffnung, dass es mit der katholischen Kirche in Russland weitergeht. Diese Hoffnung liegt zu einem großen Teil bei der Jugend. Die jungen Leute möchten wirklich glauben und aktive Christen sein. Sie steigen sehr offen und sehr aufrichtig ins Gemeindeleben ein. Zum Weltjugendtag habe ich selbst eine Gruppe von 230 Jugendlichen aus ganz Russland nach Deutschland begleitet. Ein Jahr lang haben sie sich in ihren Gemeinden auf diese Tage vorbereitet. Die Atmosphäre in der Gruppe hat mir sehr gefallen: Wir waren keine Touristen, sondern wir waren Wallfahrer.
Wie können Christen in Deutschland den Menschen in Russland helfen?
Zuerst will ich sagen, dass ich mich sehr darüber freue, das die Menschen in Ostdeutschland den Kontakt zu mir und meinem Bistum halten. Seit 15 Jahren bin ich in Russland und viele könnten mich vergessen haben. Aber es gibt viel Interesse und viele persönliche Kontakte.
Wenn jemand fragt, was wir in Zukunft brauchen, möchte ich gerne das Beispiel der Partnerschaften aufgreifen: Es gibt Pfarrgemeinden, die eine Partnerschaft mit einer Gemeinde bei uns haben, und es gibt Familien, die Familien bei uns unterstützen. Diese persönlichen Kontakte sind etwas sehr Wichtiges. Ich möchte aber auch um etwas Geduld mit unseren Leuten bitten. Bis heute ist es nicht selbstverständlich, dass sie sich wenigstens mit einem Brief bedanken. Sie kommen zu mir, zeigen mir die Päckchen und sagen, dass sie sich sehr freuen. Wenn ich ihnen dann sage, schreibt doch einem Brief, dann schämen sie sich für ihr schlechtes Russisch und weil sie den Brief nur auf herausgerissenen Heftseiten schreiben könnten. Ich bitte also: Auch wenn das Echo zunächst ausbleibt, bleiben Sie mit Ihrer Unterstützung dran. Diese persönlichen Kontakte sind etwas auf Zukunft hin. Selbst wenn es in Russland in materieller Hinsicht einmal besser gehen sollte, bleiben diese Kontakte. Und das wäre wunderbar!

Fragen: Matthias Holluba




Stichwort: Bistum St. Clemens

Clemens Pickel ist Bischof der Diözese St. Clemens in Saratow. Das Bistum umfasst den südlichen Teil des europäischen Russland. Flächenmäßig ist es viermal so groß wie Deutschland. Dort leben schätzungsweise 35 000 Katholiken. Das entspricht etwa 0,08 Prozent der Einwohnerzahl. In den Pfarrgemeinden, die 200 bis 400 Kilometer voneinander entfernt liegen, sind 40 Priester tätig. Nur einer ist Russe, die anderen kommen aus dem Ausland, vor allem aus Polen, aber auch aus Argentinien, der Slowakei, Deutschland, Frankreich, Irland, der Ukraine und den Philippinen. Die Priester bekommen kein Gehalt. Sie müssen ihren Lebensunterhalt durch Spenden finanzieren. Außerdem gibt es 50 Ordensschwestern, acht Seminaristen und 25 Katecheten, die nach einem vierjährigen Fernstudium jetzt nach Bedarf ehrenamtlich in den Gemeinden tätig werden. (mh)



Hinweis

Wer Bischof Clemens Pickel und die katholische Kirche in Russland unterstützen will, wendet sich am besten an:
Kirche in Not
Ostpriesterhilfe Deutschland
Albert-Roßhaupter-Str.16
81369 München
Tel. (089) - 760 70 55
Internet: www.kirche-in-not.de oder an:

Renovabis
Kardinal-Döpfner-Haus
Domberg 27
85354 Freising
Tel. (08161) - 530 90
Internet: www.renovabis.de

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 41 des 55. Jahrgangs (im Jahr 2005).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Mittwoch, 19.10.2005

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