Die Welt hat sich verändert
Auf der Suche nach dem Glück: Reinhard-Mey-Tournee 2005
Leipzig - Ob mit Humor oder Ernst. Der Liedermacher Reinhard Mey steht seit über drei Jahrzehnten erfolgreich auf der Bühne. Seine diesjährige Tournee führte ihn auch nach Leipzig.
Die Oper in der Messestadt ist am 5. Oktober bis auf den letzten Platz gefüllt. Kein Wunder, Reinhard Mey versammelt ein Millionen-Publikum hinter sich. Und das in einem Genre, das fast ausgestorben ist. Erfolgreiche Liedermacher muss man heute mit der Lupe suchen.
Reinhard Mey ist die Ausnahme, die große Ausnahme. Und das seit über drei Jahrzehnten. Mit Sprachwitz, Selbstironie und, wenn es sein muss, mit tiefem Ernst, trifft er den Nerv des Zeitgeistes und versteht es, an den empfindlichen Stellen der Menschenseele zu kitzeln.
Die Zeit ist gekommen, Rückschau zu halten
Wie immer betritt er allein die Bühne, szenische Reduktion auf das Wesentliche: Die vertraute Stimme und die Gitarre schaffen Nähe, die schwarze Kleidung, das Tu-mir-bitte-nichts-Outfit der Linksintellektuellen, eher Distanz. Der große Sinnsucher ist in die Jahre gekommen. Die Welt hat sich gedreht, verändert, hat Fortschritte gemacht und Rückschläge erlitten. Für Mey ist ein bisschen die Zeit gekommen, Rückschau zu halten. Die berühmte "Annabell", mit der er einst seine eigene Revoluzzergeneration gehörig auf die Schippe nahm, erfährt eine späte Rehabilitierung ("Diesmal machen wir es richtig"). Mey wirbt um Verständnis – für die Zeit, für die Umstände und outet sich selbst als Frauenrechtler, weil er "Sohn einer Mutter, Mann einer Frau und Vater einer Tochter" ist. Und dennoch: Die Annabell war keine Jugendsünde, für die es einen "Haufen Ärger" gab, sondern das Produkt einer Generation, die mehr als aufrührerisch war.
Manche Themen sind überzeitlich. Bei Reinhard Mey der Frieden, natürlich. Diesmal geht es frontal gegen Verteidigungsminister Peter Struck, der sich mit dem "Gedanken" anzufreunden versucht, dass Bundeswehrsoldaten bei Auslandseinsätzen auch zu den Opfern gehören könnten. Mey hält erwartungsgemäß dagegen ("Meine Söhne geb ich nicht"). Globale Verantwortung kann nicht den Preis haben, dass Menschen verheizt werden. Das Engagement des Liedermachers für den Frieden hat Kontinuität. Er legt den Finger in die Wunden der Welt ("Alles o.k. in Guantánamo Bay"). Gottes eigene Nation braucht nicht nach den Menschenrechten zu fragen: Aber in einem Sträflingsanzug steckt ein Mensch, ohne Hoffnung auf einen fairen Prozess, ohne soziale Antizipation. Nein, auch Amerika darf das nicht.
Herbe Kritik müssen die großen Religionen einstecken ("Ich glaube nicht"). Das Christentum kommt am schlechtesten weg. Wenn es Gott gibt, dann ist er nicht in den Domen und Kathedralen, sondern bei Oma Krause oder in der Aldi-Filiale zu fi nden. Diese Form der Religionskritik ist freilich nicht neu. Wer oder was ist wichtiger oder glaubwürdiger? Der Papst oder Mutter Teresa? Der Choral oder der Samariterdienst? Der "bekennende Agnostiker" Mey will anstoßen, aufrütteln, frei wie er ist, weder Herr noch Knecht, nur seinem Publikum verpfl ichtet. Aber auch Agnostizismen drohen zuweilen in Ideologien zu versinken, wenn sie nicht die Freiheit des anderen im Blick behalten. Das jedoch kann man Mey nicht vorwerfen. "Man muss bei sich selbst anfangen."
Ein Denkmal setzt er den Messner-Brüdern, Reinhold und Günther. Der eine, der vom Schicksalsberg "Nanga Parbat" zurückkkehrte, der andere, der den Abstieg nicht überlebte. Jahrzehnte danach gerät Reinhold Messner wegen dieses Vorfalles in das Kreuzfeuer der Schlagzeilen. Er habe seinen Bruder im Stich gelassen. Reinhard Mey stellt sich öffentlich auf die Seite des Bergsteigers. Er schließt mit dem Menschen Messner Freundschaft, nicht mit dem Extremalpinismus: "Da würde ich nie hinaufsteigen."
Jeder Abschied kann für immer sein
Applaudiert wird solange, bis Reinhard Mey sein Schlaflied singt ("Gute Nacht, Freunde"). Auch das hat Kontinuität. Er ist eins mit seinem Publikum, besonders in dieser sanften Melodie des Abschieds, der genau genommen einer für immer sein könnte. Das Glück zu suchen und Schmerzen zu vermeiden, bei Aristoteles die Grundformen menschlichen Strebens zu Beginn seiner "Nikomachischen Ethik", sind die Themen, die Reinhard Mey aufnimmt und in einer einzigartigen Sprachgewandtheit umsetzt. Was macht das Leben lebenswert? Dauerhafte Partnerschaften, verlässliche Freundschaften, ehrliche Gefühle. Träume, Illusionen? Wer noch am Leben ist, muss sich seine Träume bewahren. Das ist die Botschaft.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Mittwoch, 19.10.2005